Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
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Im Dörfchen Berlin muss ich mich erst daran gewöhnen, wie kleine Miseren sich manchmal ins kleine Glück wenden. Dass ich hinter Berlin so ausgefallen frühstücke wie niemals – Milch von der Stute: So etwas macht mich übermütig, und im Nu ist all die Anspannung des ersten Reisetags verflogen.
Trotzdem solltest du auch Übermut im Zaum halten. Lass dir von deinem inneren Skeptiker gesagt sein: Du bist zu verbissen und bekommst nur deswegen erst einmal die Berlinkrise, weil du über hochfliegenden Fahrplänen die eigene Sturheit nicht erkennst: Derart jott-we-de beginnst du deine Deutschlandroute! Hauptstadt Berlin wäre der einfache und einleuchtende Startpunkt. Aber dieses winzige Berlin – nicht einmal übernachten lässt sich da.
DeutschLAND, verstehst du? Mir gehts vorrangig eben nicht um große Städte. Ich will das Land im Kleinen unter die Räder nehmen, über die Dörfer fahren, mit Menschen in winzigen Städten reden. Durch viel Grün soll mich das Rennrad tragen, über kurvige Sträßchen und schrullige Weiler.
Berlin in Schleswig-Holstein ist erster Stopp auf der Reise, aber losgefahren bin ich in Gießelrade. Schlichte Höfe und Häuser lehnen dort rücklings an einer Waldeshöhe. Am Dorfrand beginnt die Trave, kümmerlich rinnt sie aus einem verbuschten Pfuhl. Holsteinische Schweiz heißt offiziell der Landstrich. Ich halte Ausschau nach zünftigen Bergen, finde aber nur eine Art Sofalandschaft, auf der Ackerhügel sich zu gutmütigen Polstern formen. Erster Weiler zwischen den Hügeln: Sarau. Es gibt einen Gutshof mit Werbetafel am Sträßchen. Zu sehen ist ein Gockel auf einem Schwein, zu lesen ›Bauer Schramm, Fleisch mit Qualität‹. Schramms Tafelschwein ist grün, vielleicht lebt es hier im Einklang mit der Natur – und besonders lang, weil Kundschaft rar ist in dieser abgeschiedenen Gegend.
Exakt ein Auto begegnet mir bis Seekamp. Ich quere das Wässerchen namens Berliner Au und rolle Unter den Linden ein. ›Unser Berlin ist 22 Jahre älter als die Hauptstadt‹ vermeldet die amtliche Webseite Trave-Land. Gut fünfhundert Einwohner hat dieses Berlin, gegründet von Fürst Berolin, 1215 erstmals erwähnt. Zu Kaisers Zeiten dienten Holstein-Berliner in Hauptstadt-Berlin. Aus Jux und Größenwahn importierten sie Straßennamen in die Heimat. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte man Ernst, ließ sich von Westberlin original Straßenschilder spendieren.
Unter den Linden 1, an dieser Adresse stehe ich jetzt. Mit Frühstücksfrust, denn die dortige Imbissbude hat noch zu. Probevisite an Berlins einzigem Gasthaus: Es öffnet noch später. Und die Tankstelle? Ölkanister und Scheibenspray. Das Nebengebäude heißt ›Super Markt H. Hey‹. Aber drinnen, hinter erblindenden Scheiben, sehe ich nur den Podex eines Mopeds, Segeberger Kennzeichen. »Hat vor ein paar Jahren dicht gemacht« ruft mir eine tankende Frau herüber, die mich Hey starren sieht. »Bis zum nächsten Supermarkt sind es so sieben Kilometer, nach Norden raus.« Ich will nach Süden. Warum hat der Markt zugemacht? Die Frau sagt, immer mehr Menschen boykottierten den Laden. »Die Besitzer stellten sich aber auch an! Wenn da jemand auch nur eine Minute zu spät kam, nach Ladenschluss, haben die den nicht mehr reingelassen.« Als ich der Frau meine Hungermisere schildere, darf ich ihr nach dem Tanken von der Potsdamer in die Heerstraße folgen. Dort betreibt die Frau zusammen mit der Familie einen Haflingerhof, Hauptprodukt Stutenmilch. »Aber so früh am Tag ist noch nicht fertig gemolken, da kann ich Ihnen nur Tiefgefrorene anbieten.« Ich überlege nicht lange.
Kilometer 14: Tiefkühl von der Stute
Wenig später glänzt auf meiner Packtasche, silbrig und unterm zarten Flaum frischen Reifs, ein flacher Viertelliter-Beutel mit Demeter-Logo. Klar muss ich warten, bis die Stutenmilch angetaut und trinkbar ist. An Niedersachsens Milchtankstellen werde ich ab Morgen schneller zum Zuge kommen. Denke ich, wieder einmal. Dreißig Stunden später werde ich bereuen, mich darauf verlassen zu haben.
Kaum bin ich in Fahrt, halte ich am Ortsende Berlins, Gutshof angucken. Das Gemäuer schimmert nicht klinkermodern kühl, es glänzt warmrot im Gewand alter Steine. Oben prangt ein trabendes Pferd als Wetterfahne. 1925: Schnörkeleisen verkünden das Baujahr. Respekt, es war das Jahr einer wirklichen Misere. Landwirtschaftliche Geräte waren teuer, Kreditzinsen hoch. Zudem litten Bauern unter Preisdruck, weil die Weimarer Republik 1925 erstmals Agrarprodukte aus dem Ausland zuließ.
Die Bauernmisere kumulierte in der Landvolkbewegung, die von Holstein auf die gesamte Republik übergriff. Viele Bauern radikalisierten sich, es gab gewaltreiche Demos und Anschläge. Ganz so wie Hans Fallada schreibt in ›Bauern, Bomben und Bonzen‹. Als Blaupause diente ihm Neumünster, gut dreißig Kilometer westlich von Berlin. Dort saß Fallada zweieinhalb Jahre im Gefängnis, weil er, bereits vorbestraft, Geld für Alkohol und Morphin unterschlagen hatte. Im Juni 1928 kam er frei, war später Lokalreporter des General-Anzeiger und Zeuge des Bauernaufstands sowie eines Schauprozesses gegen die Aufrührer. Die Bonzen, das waren zu Falladas Zeiten die Roten. Die Bauern wählten zunehmend braun. Auf dem Boden der Landvolkbewegung gedieh der Nationalsozialismus allzu prächtig – berüchtigt seine Wahlerfolge von 1928 in Holstein und im Kreis Segeberg, zu dem Berlin gehört. Segeberg gerät jüngst wieder in die Schlagzeilen. Dort versucht ein mehrfach verurteilter Rechtsextremist, ein Nazi-Netzwerk auszubauen.
Segeberg endet hinter Steenkrütz, wo heute ein harmloses Netzwerk installiert wird. Rechts der Straße spannt sich nagelneuer Maschendraht um ein Areal, etwas so groß wie ein Badepool. Eben packen die Bauarbeiter ein, ich frage den Bauleiter, was das für ein Gehege wird. »Wir machen hier ein neues Konto auf« scherzt er und ergänzt: »Das gehört hier zu einer Ökobank. Die besteht aus Flächen, welche die Naturschutzbehörden ausweisen, um Firmen oder Privatleute zahlen zu lassen für massive Eingriffe in die Natur. Das kann zum Beispiel eine Straße sein oder ein Bauwerk – kann auch ganz woanders sein als hier oben an der Trave.« Auf dem Steenkrütz-Konto sollen Amphibien heimisch werden. Ich frage, ob so das Land mehr Wildnisgebiete bekommt, die der Bund jetzt einfordert. Nein, sagt der Bauleiter, dafür sei die Landschaft zu kleinteilig strukturiert, ein generelles Holstein-Problem.
Im Mix der Felder variieren die Dörfer. Strenglin steht ernst hinter Gerste, Pronstorf hat ein mondänes Gut. Stallungen werden für ein Festival präpariert, kündigt ein Plakat. Goldenbek signalisiert mir einen ersten Wink in die deutsch-deutsche Vergangenheit: Am Mast einer Seitenstraße weht ein Originalbanner der DDR-Automarke ›Trabant‹. Zu erspähen ist von der Straße aus nichts, auf Klingeln oder Rufen reagiert niemand. Ich frage einen Passanten. Der berichtet, ein Fernfahrer bastelt hier in der Freizeit an Rennpappen.
Einen einzelnen Trabi bekomme ich eine Radstunde später dann doch noch serviert. Vorher kredenze ich mir am Rand der Holsteinschweiz ein Mahl aus dem Folienbeutel: Meine Frostmilch ist angetaut, endlich. Schmeckt angenehm mild und nussig, dieses Stutenelixier, gar nicht so tierisch herb wie vermutet. Aber ich brauche mehr, etwas Handfestes, nehme Witterung auf in Berkenthin. Da liegt das ›Kleine Kaufhaus‹ an meiner Route. ›Kohlenhydrate‹ denke ich, erblicke im Schaufenster aber nur Plastikspielzeug – und neben dem Haus eine Leiche. Es ist ein kunterbunt angemalter Trabi mit krätziger Karosserie und erloschenen Kulleraugen über halb abgerissener Stoßstange. Auf dem Dach sitzt das Riesenimitat eines Drehschlüssels. Ob das auch ein Spielzeug ist, frage ich im Kaufhaus. »Ja, das war ein Werbegag, zum 25-jährigen Jubiläum unseres Ladens« klärt mich drinnen die Frau hinter dem Verkaufstisch auf. Ihr Vater hatte das Ding einer seiner Angestellten aus dem Osten abgekauft, die sich von ihrem Lohn ein Westauto leistete.
Ein echtes DDR-Schnäppchen. Wusste Günter Grass davon? Inspirierte ihn die Trabileiche gar? Grass wohnte nur zehn Fahrminuten von Berkenthin, in Behlendorf. Unvergessen nach der Wende: Seine Rede ›Ein Schnäppchen namens DDR‹, gehalten vor dem Bundestag zum Tag der Deutschen Einheit. Er wusste, die Rede würde einen Eklat auslösen, und amüsierte sich später in einem seiner Tagebücher: ›Die Diskussion danach begann wie gewohnt mit »Wo bleibt das Positive?« obgleich ich doch diese deutsche Standardfrage verhöhnt hatte.‹ An der Person Grass, dem großen Kritiker der Einheit, sucht man heute noch nach kleinen Widersprüchen.