Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
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Gartenschläger stammt aus Brandenburg, war bei Protesten gegen den Mauerbau im Alter von 17 Jahren festgenommen und in einem Schauprozess zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Mit 27 Jahren kaufte ihn die Bundesrepublik frei, er ließ sich in Hamburg nieder, mit dem Auto keine Stunde entfernt von dem Waldstück, in dem ich stehe. Im Jahr 1976, Gartenschläger war inzwischen 32 Jahre alt und sein Hass auf das Ostregime ungebrochen, erdachte er eine Racheaktion. Er wollte der Welt vor Augen führen, dass an der Grenze tatsächlich Selbstschussanlagen montiert waren – beständig geleugnet von der DDR. Im März demontierte er das erste Gerät und verkaufte es an den Spiegel; im April das zweite. Seine Umtriebe stießen auf Unmut beim westdeutschen Grenzschutz. Der informierte über Funk alle Bundesgrenzer der Gegend über Gartenschlägers Aktionen mit der Anweisung, ihn von der Westseite her abzupassen – zumal in Holstein ein gerichtlicher Bescheid wegen Waffenbesitzes gegen ihn vorlag. Ostdeutsche Grenzer hörten den Funk der Westdeutschen mit und alarmierten die Staatssicherheit. Die schickte ihr Spezialkommando.
Wer am 30. April 1976 zuerst schoss, konnte nie aufgeklärt werden. Fakt ist: In der Nacht zum 1. Mai starb Gartenschläger an Treffern in Herz und andere Organe. Die Stasi nahm ihn mit und ließ ihn zehn Tage später als ›unbekannte Wasserleiche‹ auf dem Schweriner Waldfriedhof einäschern. Von der Grabstelle erfuhren Familie und Freunde erst nach der Wende.
Wo das Grenz-Eck westlich in den Wald zeigt, treffe ich auf die Gedenkstätte: Original-Grenzpfosten, ein Stück Grenzzaun, ein mannshohes massives Holzkreuz, in hellem Blech ummantelt. Auf einem Felsbrocken ist zu lesen, das Sonderkommando bedachte Gartenschläger mit einhundertzwanzig Schüssen. Am Zaunstück hat die Vereinigung der Opfer des Stalinismus e.V. eine Selbstschussanlage montiert. Angesichts ihrer Primitivität wirkt sie besonders perfide: In einen zigarrengroßen Zündzylinder münden Spanndrähte, die entlang des Zauns laufen. Auf dem anderen Zylinderende steckt ein Metalltrichter – man könnte es für eine Kinder-Flüstertüte halten. Werden die 120 Gramm TNT im Zylinder elektromechanisch gezündet, zerfetzen hundert scharfkantig gezackte Metallsplitter Tiere, Menschen, einfach alles in einer Reichweite von 25 Metern. Die Splittermine SM-70, so der offizielle Name, wurde von der DDR seit 1969 zu Zehntausenden montiert. Das Regime behauptete, es handelte sich um Attrappen, bloß zur Abschreckung, und unterzeichnete 1975 die Menschenrechtserklärung von Helsinki. Demontiert wurden die Splitterminen erst 1984, weil der Westen Druck ausübte. Ohne SM-Rückbau hätte die DDR einen Milliardenkredit nicht bekommen und wäre womöglich zahlungsunfähig geworden.
Als ich von der Gedenkstätte zurück auf den lichten Grenzstreifen gelange, ist die Abendsonne hinter schwarzen Schleiern versackt. Im Süden und Osten schimmern noch blaue Flecken zwischen Gewölk. Instinktiv hoffe ich, Blau möge sich durchsetzen. Oder lieber doch nicht? Mit himmlischem Blau wirbt ja ausgerechnet die AfD. Und später im Jahr werden sich die Blauen bei drei von vier Länderwahlen Ostdeutschlands zu Spitzenparteien in den Parlamenten mausern.
Grass pinselte einst ein Aquarell, das mir in den Sinn kommt: Deutschland in Braunrotgrün-Tönen. Darüber ist in breiter Kurvatur – die Assoziation Kothaufen liegt nicht fern – handschriftlich schwarz geschrieben: ›Seit Jahren liegt eine Last auf meinem Land. Versteinerter Brei, klebfest, nicht abzuwählen.‹
Zweiter Fahrtag: ›Heimat bewahren‹ begrüßt mich ein AfD-Plakat am Rande Boizenburgs. DDR-Heimat wird von der AfD wohl nicht gemeint sein. Dabei bietet Boizenburg den sogenannten Ostalgikern zwei anschauliche Objekte. Das eine ist essbar und schmeckt lecker. Im anderen Objekt kann man essen, aber es wirkt völlig geschmacklos. Aber der Reihe nach.
Von Leisterförde nach Boizenburg sind es zwanzig flache Kilometer, gesäumt von Wald und bespielt vom Bach namens Boize. Im Gegensatz zu Berlin bietet das Städtchen Frühstücksgarantie: ›Handwerksbäckerei‹ weist im Zentrum ein Schild in die Königstraße. Fünf Minuten später stehe ich, noch ohne Frühstück, bei Thomas Stenschke in der Backstube.
Kilometer 126: Ostalgie in Brötchenform
Stenschke holt aus einem großen Plastikeimer sein liebstes Kind: den Teig aus dem er ›Ossis‹ macht. »Drinnen steckt eine ganz besondere Zutat« schmunzelt der 53-Jährige »und das ist Zeit«. Stenschke setzt abends einen Vorteig an, den er frühmorgens ein zweites Mal durchknetet. Täglich bäckt er an die hundert jener Doppelbrötchen, die er an der Straße als ›DDR-Brötchen‹ bewirbt, die im Laden aber einfach ›Ossis‹ heißen und deren Korb auch so beschriftet ist. Wie reagieren die Menschen in Boizenburg auf Stenschkes ›Ossis‹? »Beschwert oder gemeckert hat niemand« sagt der Bäcker. »Das hat sicher auch damit zu tun, dass ich von hier stamme. Meine Oma übernahm den Laden vor dem Krieg.« Zu DDR-Zeiten übernahm Stenschkes Vater. Der buk nach der Wende weiter DDR-Brötchen, aber jedes Jahr nur einmal: zum einstigen ›Tag der Republik‹. Politischen Hintergrund dafür gab es keinen, sagt Stenschke. »Das war ein reiner Werbegag.« Seit Oktober 2015 bietet der Bäcker seine ›Ossis‹ nun täglich in der Königstraße feil.
Als ich mich nach ›Ossi‹-Lehrgang und -Frühstück verabschiede, lasse ich mir für 60 Cent eines der aromatisch duftenden Doppelbrötchen einpacken.
Wenn es nicht bis zur Nordsee dümpelte, wurde das Brötchen vielleicht von einem Schwan oder einem Fisch gefuttert, und das kam so: Ich fuhr raus aus Mecklenburg – Brücke über die Elbe – holprige Holzbohlen am Geländer – Brötchentüte nicht sicher verzurrt auf dem Packsack – ›Ossi‹ hopst in die Elbe.
Noch ist es nicht so weit mit mir, noch habe ich mein Brötchen und bin in Boizenburg. Am Ortsausgang gab es zu DDR-Zeiten eine Kontrollstelle, sieben Kilometer vor dem finalen Grenzzaun. Heute heißt sie ›Checkpoint Harry‹. Ein Harry S. kaufte den Flachbau nach der Wende und baute ihn als Imbiss, Gaststätte, Partyservice aus. Neben dem Eingang prangt mannshoch ein Fliesenmosaik an der Wand. Es zeigt einen lächelnden DDR-Grenzer, winkend, mit glänzenden Schaftstiefeln, in der Rechten hält er ein halbvolles Gläschen mit rotem Sekt. Gerne hätte ich Harry S. befragt, ob er mit dem Grenzer einen derben Spaß macht oder aber alte Zeiten zurücksehnt. Aber aus Holstein weiß ich schon: Wer zu früh kommt, den bestrafen verschlossene Türen. ›Checkpoint Harry‹ öffnet wie der Imbiss gestern in Berlin erst spät vormittags. So mache ich mich rasch daran, das geschmacklose Fliesenbild und den Osten hinter mir zu lassen. ›Einreisen‹ werde ich erst wieder in 1472 Kilometern.
Das Strafwort für Radfahrer, die nach Westen rübermachen, heißt Westwind. Mit jeder Stunde bläst er heftiger; auf den exponierten Elbhängen hinter Boizenburg geradezu ekelhaft. Ich muss mich geradewegs hindurcharbeiten und ein Stückchen Holstein queren. Dann quere ich die Elbe und bin in Niedersachsen.
Hohnstorf heißt der erste Ort. Ohne zehrenden Wind könnte er nett sein. Doch die Häuser am Elbdeich sind verteilt, als repräsentieren sie die Großzügigkeit des gesamten Flächenlandes: Es findet sich kein Windschatten, überall wirbelnde Brisen. Der Tag wird noch lang, denke ich, du hast keinen ›Ossi‹ mehr und kaum anderen Proviant. Ob sich in Hohnstorf etwas kaufen lässt? Google spuckt Edeka aus, aber das ist abseits, jenseits der Bundesstraße, das widerstrebt mir. Ich bleibe auf der Route, probiere mein Glück am letzten Haus, Pension und Ferienwohnung in einer Sackgasse namens Fischerzug. Vielleicht räumen die dort eben erst das Frühstück weg und…
»Ich hab momentan nur auf Vorbestellung« unterbricht meine Spekulationen der Mann, der gerade aus der Pension tritt. Glaubt er, ich suche eine Bleibe? Nein, stellt sich heraus, er glaubt, ich will Fisch.
Eckhard Panz ist Fischer in vierzehnter Generation, einer der letzten seiner Zunft an der Elbe. Panz nimmt mich mit in den Anbau des Haupthauses, wo es in einem mächtigen Bassin brodelt und spritzt. »Meerforellen« erklärt er und lupft eine heraus, »so an die sieben Kilogramm «. Panz fährt zweigleisig, er vermietet und handelt