Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos

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Zwei Räder, ein Land - Martin C Roos

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auf einem selbst gemachten Holztäfelchen. Es schließt sich der ›Schöne von Nordhausen‹ an, bald gefolgt vom ›Finkenwerder Herbstprinz‹. Auch eine Cydonia-Quitte und zwei ›Hauszwetschen‹, ohne ›g‹ geschrieben, stehen Spalier. Zuletzt in der Reihe trumpfen ›Bürgermeister‹ und ›Kochbirne‹ auf – zwei angestammte Baumriesen des Hof Eggers. Dort endet die Obstreihe und beginnt mein Treffen.

      Verabredet sind wir im Hofcafé, junger Spross einer alteingesessenen Bauernfamilie. Kontakt zum Hof haben die Melaus seit einem Vierteljahrhundert. Vor rund zehn Jahren, Angelika und Walter Melau waren in Rente, kamen ihnen die Obstbäume in den Sinn. »Schockiert hat uns damals, welche Vorgaben die EU für Streuobstwiesen hatte« erinnert sich Walter Melau. »Es hieß, das muss alles abgeholzt werden – und stellen Sie sich mal vor: Wir hatten in Deutschland rund 1,6 Millionen Hektar Streuobst, jetzt haben wir, wenn’s hoch kommt, 300.000.« Über Internet und eine Baumschule bei Rendsburg informierten sie sich über alte Sorten und darüber, welche Böden die Bäume bevorzugen. Parallel eruierten sie Standorte und kamen schließlich mit Hof Eggers überein. Ein Gärtner aus dem Bekanntenkreis half einzupflanzen. Noch heute übernimmt er freiwillig den Schnitt, berichtet Angelika Melau. »Alle Bäume haben getragen bereits!« Die Ehefrau wird während des Gesprächs immer enthusiastischer. Ihr Favorit ist der ›Celler Dickstiel‹. Den ›Purpurroten Cousinot‹ mag der selbstbewusst auftretende, aber doch hanseatisch zurückhaltende Ehemann am liebsten. Seine Antwort auf meine abschließende Frage nach diese Apfelmelange? »Wir haben keine Kinder, dachten, vielleicht freut sich nach uns jemand über die Bäume. Sie sind unsere Hinterlassenschaft.«

      Die Apfelretter: Angelika Melau begutachtet die Triebe am ›Juwel von Kirchwerder‹, einem der 31 Obstbäume, gepflanzt von ihr und ihrem Mann im grünen Winkel Hamburgs.

      Während Melaus die Heimfahrt gen Osten antreten – sie wohnen deichnah in Altengamme – radle ich westlich. Links steht die Riepenburger Mühle, Hamburgs älteste Windmühle. Kurz danach bin ich zurück am Zollenspieker. Das ist Hamburgs südlichster und ein historisch bedeutsamer Punkt. Ein ›Zollspeicher‹ ist hier bereits im 15. Jahrhundert dokumentiert. Im 17. Jahrhundert nutzte der Herzog von Braunschweig und Lüneburg eine eisharte Elbe, um mit seiner Soldateska nach Norden vorzustoßen und die Speicher zu plündern. Im 21. Jahrhundert fährt die Autofähre in Gegenrichtung alle zwanzig Minuten. Wie bereits zu Beginn des Hamburg-Intermezzos habe ich Glück, brauche nicht einmal die Schuhe aus den Pedalen zu klinken, rolle ungebremst die Stahlklappe der Fähre hinauf. Während das Rad an der Reling ruht, schaue ich auf den Kilometerzähler: Das bisherige Pensum liegt bei Sechzig, fast zwei Drittel der Etappe sind geschafft. Und schon geht es vom Schiff runter und zrock-zrock-zrock die gepflasterte Rampe hinauf, nach Achterdeich, zurück in Niedersachsen.

      Bis Ramelsloh bewahrt Wald mich vor den Nachmittagsböen. Trotzdem fühlt sich dieser 31. Mai an wie der Beginn des März. Als ich frierend die Brücke über die Seeve quere, passiere ich, wie zum Hohn, einen ominös dekorierten Saunaclub namens Harmony. In Bendestorf drehe ich meinen Clip [www.tinyurl.com/HamburgSO, 2 Min.] und wärme mich im Supermarkt. Nebenbei kaufe ich ein: Es gibt eine Kochgelegenheit in meiner Unterkunft.

      Bis dahin fehlen nur zwanzig Kilometer, aber ich erlebe die alte Langstreckenregel: Je intensiver man sich bereits am Ziel wähnt und unter erlösendem Duschwasser, umso unerträglicher und grässlicher erscheint oft die noch zu bewältigende Gegenwart. Ich trage mit Fassung, dass Beine und Schulter schmerzen. Unerträglich ist mir der Verkehr bis Jesteburg. Er ergießt sich aus Hamburg und zwei tangentialen Autobahnen in den Feierabend. Alle Pkw strömen am Ende Jesteburgs nach links. Ich verlasse den Strom, fahre allein und geradewegs in die Lüllauer Dorfstraße. ›Sich einlullen lassen‹ denke ich, erschöpft vom Tagwerk, die letzten Kilometer entlang der Seeve ausrollend bis zur Endstation Thelstorf.

      Den nächsten Morgen erwache ich von einer im ersten Moment erschreckenden Polyphonie. Dass Vögel in freier norddeutscher Natur derart laut und artenreich tönen, ist mir neu. Bevor ich mich aus dem Bett schäle, gönne ich dem Hirn Dehnungsübungen. ›Naturverwachsen in Niedersachsen‹. Nein! Bitte keine Reime. ›Die Nordheide und ihre gefiederten Freunde‹ – schauerlich. ›Husch Husch, It’s All Busch‹.

      Pack dein Hirn ein, steh auf und sieh zu, alsbald auf die Piste zu kommen. Die schlimme Dichterei zeugt von unsäglichem Übermut, der bei dir – sorry für den Kassandraruf – selten gut endet.

      Nein, mein Lieber, diesen dritten Tag spüre ich als Glückstag. Und Allbusch gibt es wirklich: So heißt die Straße hinter Thelstorf – eine feine Piste fürs Rennrad übrigens.

      In Handeloh liegt die vogel- und waldreiche Gegend hinter mir.f ›Niedersächsisch normal‹ würde ich sagen, fragte mich jemand, wie ich die Gegend empfinde. Eben erstreckt sich das Land, Platt steht auf einigen Schildern. Das Dorf Welle zum Beispiel heißt niederdeutsch Will.

      Platt bin ich einige Kilometer weiter angesichts eines Straßenschilds. Es gehört zum Landkreis Rotenburg und benennt die Patenschaften, hübsch mit Wappen: ›Angerburg, Ostpreußen‹ und ›Stuhm, Westpreußen‹. Im ersten Rotenburger Dorf, Tiste, frage ich an seinem alten Fachwerkgehöft den Bauer, wie die revanchistischen Namen zu verstehen seien. Hartmut Löhmann misst den preußischen Bezeichnungen keine Bedeutung zu, schiebt alle Schilderschuld auf die Kreisverwaltung. Nein, meint er auf meine Nachfrage, Parteien am rechten Rand seien in der Gegend unbedeutend, allen Trends im Osten zum Trotz. Was politisch in den Neuen Ländern passiert, interessiere hier kaum. »Die Leute sind fixiert auf ihre Arbeit und die Verkehrsanbindung« sagt Löhmann. »Viele pendeln nach Bremen oder Hamburg und brauchen manchmal zwei Stunden, einfache Strecke.« A1 statt AfD. Das lokale Staubarometer ist in Tiste wichtiger als die politische Großwetterlage.

      Nach dem Gesprächsmitschnitt will ich das Smartphone neu laden. Dem geht im Strudel von Navigation, Nachschlagen und Notizen meist schon nach zwei Stunden der Saft aus. Doch hier, in Tiste, endet jäh das Gemächliche dieses glücklichen Morgens. Der Schreck fährt mir doppelt in die Glieder. Ladestecker und -kabel fehlen, sind wohl in Thelstorf geblieben. Und beim Gepäck-Check werde ich gewahr: Das Radhemd, das ich in Welle zum Trocknen auf die Packtasche schnallte, ist weg. Anruf in Thelstorf. Die Wirtin würde mir die Gerätschaft hinterherfahren. Wir verabreden uns in Welle. Zwanzig Kilometer meiner Morgenstrecke muss ich bis dahin erneut abstrampeln (und später wieder bis Tiste). Das Gute daran: Mitten auf der Strecke finde ich am Straßenrand mein Unterhemd, schmutzig zwar, aber trocken.

      Tiste-Welle-Tiste: Diese Extratour zählt zwar nicht zur offiziellen Strecken-, aber sehr wohl zur privaten Leistungsbilanz. Deswegen gelange ich erschöpfter als geplant nach Ehestorf, wo sich die Gesamtstrecke der Deutschlandroute zu 250 Kilometern summiert. Mir ist feierlich zumute und ich stoppe am ›Melkhus‹, bestelle eine Pina Kuhlada. Der ohne ñ geschriebene, aber die Eiweißquelle korrekt angebende Mix besteht aus Buttermilch, Rhabarber, Bananen, Kokossirup. Zusammen mit zwei Stücken Erdbeerkuchen ergibt das ein treffliches Mittagessen. Nebenbei erfahre ich von der Bäuerin, in ihrem Landkreis gebe es mit rund 70000 Kühen mehr Milchvieh als in den meisten Kreisen Südbayerns.

      Des süßen Krams und der Wärme wegen sind meine Wasservorräte im Nu aufgebraucht. Halten will ich erst in Nartum, fahre am frühen Nachmittag gegen den Uhrzeigersinn um Rotenburg. Wenn Tiste als kleiner Zeiger auf 14 Uhr zeigt, liegt Nartum dort, wo der Minutenzeiger auf ›zehn vor‹ steht. An einem Imbissstand decke ich mich mit Wasser ein. Das Rad lehnt derweil unter der Anschlagtafel des Dorfs. ›Wir suchen Dich‹ heißt es auf dem Plakat des FSV. Der Fußballsportverein braucht Nachwuchs – Jungs als ›die Herren von Morgen‹, heißt es auf dem Papier.

      In Nartum, etwa in der Mitte zwischen Lüneburger Heide und Bremen, lebte bis 2007 ein ganz großer Sucher. Biografische Dokumente aller Art waren seine Objekte, an die er sogar über Aufrufe in Funk, Fernsehen und Presse gelangte. Die Menschen schickten sie ihm massenhaft, in

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