Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
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Das Blockland leert sich, aber die mir in Aussicht gestellte Ferienwohnung ist belegt. Gern willige ich ein, das Praktikantenzimmer zu nutzen. Ich nächtige auf einem Biobauernhof und darf im Haupthaus selbst kochen – was es am Ende gar nicht braucht: Ich dürfe mich einfach aus den vollen Töpfen bedienen. Beim Essen mit der Familie erfahre ich vom Boom, Land ökologisch zu bewirtschaften: Bremen hält im Ländervergleich Deutschlands den Zuwachs-Rekord in Sachen Bioanteil der Landfläche. Ein anderer Rekord wurde eine Woche vor meiner Ankunft gebrochen: Die SPD lag in Bremen stets vor der CDU, was sich bei den Landtagswahlen erstmals änderte und gut zwei Monate später zur ersten rot-grün-roten Koalition im Westen Deutschlands führen wird. Einen anderen Länderrekord hält Bremen ungebrochen: Das Land hat mit knapp zehn Prozent, vor Berlin (acht Prozent), die höchste bundesweite Arbeitslosenquote.
Gesättigt von Gesprächen und Information ziehe ich mich früh zurück aufs Zimmer. Morgen, freue ich mich, fresse ich Kilometer. Und es geht gen Süden, endlich.
Der Sammler: Hütet tausendundein Utensil der traditionellen Land- und Hauswirtschaft: Klaus Krentzel ist Kreator und Kurator des Binneboom-Museums am Rande Bremens.
Düste, DeepHolz, Dümmer
4 Uhr, kein Schlaf, nirgends. Warum bloß? Grübelnd sich im Bett zu wälzen und Ursachenforschung zu betreiben, gehört zu meinen Spezialitäten. Fehlt mir norddeutsche Nüchternheit, Umstände einfach hinzunehmen, unhinterfragt zu lassen? Dabei habe ich in der Familie nicht nur einen sächsischen, sondern auch einen niedersächsischen Einschlag. Eine Urgroßmutter stammt aus der Nähe von Bremen. Sie war berüchtigt für ihre harte Hand, physisch und psychisch. Ihretwegen landeten mein Vater und einer seiner Brüder im Internat. Dort gehörten autoritäre Erziehung, Prügelstrafen und Mobbing auch nach Ende der Nazizeit zum Schulalltag. Liegen dort die Ursachen dafür, dass mein Vater ein Stück weit lebensuntauglich wurde und selbst kein guter Erzieher?
4.30 Uhr, das Fenster im Praktikantenzimmer des Biohofs im Bremener Blockland lässt sich nicht öffnen. Stickig ist es im Zimmer und wahnsinnig hell. Ich überfliege die Buchrücken im Regal am Bett: ›Wolfsschanze – das Führerhauptquartier‹, direkt neben dem Kopfkissen. Nebendran stehen ›Hunde ernst genommen‹ und ›Wenn die Dämme brechen‹. Ich stehe endgültig auf, bereite ein Notfrühstück. Dafür habe ich einen Tauchsieder passend zur Thermosflasche, die unterwegs im Flaschenhalter steckt. Tagsüber transportiere ich Tee darin. Jetzt erhitze ich Wasser fürs Handdruck-Espressogerät, das ich mit gemahlenem Arabica befülle.
5.30 Uhr. Ich habe gefrühstückt, gepackt und eine Nachricht für die Wirtsleute geschrieben. Draußen, unter dem Werbeschild für die Bremer Milch- & Käsestraße, bediene ich mich an der Luftpumpe, die für Hofgäste an eine Hauswand gekettet ist. Als ich den Schallschatten des Gebäudes verlasse, halte ich und lausche: Von Süden her, aus Bremen-Zentrum, wummern Bässe; akustisches Zeugnis einer nächtlichen Sommerfete. »Typisch, Studenten« sagt ein grimmig dreinschauender Anwohner mit Hund an der Leine. Der Mann kommt von einem Haus mit Reetdach. Die Schräge ist derart groß und so weit heruntergezogen, dass die straßenseitige Hausfront vielleicht nur ein Sechstel der Dachfläche beträgt. Der Hundehalter mustert mich kritisch, meint, Rennradfahrer genießen hier keinen guten Ruf. Erzählt eine Anekdote: Kommt so eine Gruppe Rennradler, flott unterwegs, zur Kurve vor dem Biohof. Hinter der Kurve parkt ein Lieferwagen und »PloppPloppPloppPlopp« hängen die Radfahrer wie Fliegen hinten auf der Wagenrückseite.
Klingt spannend, sage ich, wir trennen uns ohne Gruß. Ich freue mich, das Blockland bis zum Ende an der Weser für mich allein zu haben. Bei Kilometer elf habe ich den ersten und einzigen Anstieg im Lande Bremen zu bewältigen, zwei Höhenmeter, ein Bahnübergang. Die Wümme ist inzwischen in der Lesum aufgegangen, sie hat einen gut befahrbaren Deich. Nach und nach nimmt die Zahl der vertäuten Boote zu. Erst fahre ich links, dann rechts der Lesum, passiere den kleinen Yachthafen und bin in Vegesack.
Nächste Überfahrt 7.15 Uhr, heißt es auf der Leuchtanzeige an der Weser. Die Fähre teile ich mir mit fünf torkelnden Männern und drei Autos, deren Fahrerinnen und Fahrer hoffentlich nüchtern sind. Obwohl mir zum dritten Mal auf meiner Deutschlandfahrt die Einreise nach Niedersachsen bevorsteht, fühle ich mich erleichtert. Der burschikose Kassierer verbreitet bessere Laune als das mürrische Personal am Hamburger Zollenspieker. Außerdem kostet die Überfahrt nur etwa halb so viel wie über die Elbe. Erleichtert bin ich, weil es von nun an schnurstracks nach Süden geht. Ich brauche dringend Berge. Auf den Wind, dem ich gestern gen West entgegenfuhr und heute gen Süd, würde ich verzichten. Aber was sollen die Klagen? Dieser 2. Juni wird der erste heiße Tag sein im Norden der Republik. Am Dümmer, Niedersachsens zweitgrößtem See, erwartet mich Badewetter – zum Vergnügen – und eine Dorfhelferin zum Interview.
Mit 86 durch Deutschland
Gemeint ist das Gewicht. Es setzt sich aus den 66 Kilogramm meiner selbst und den 20 Kilogramm des vollständig bepackten Fahrrads zusammen. Die Hälfte dieser 20 Kilogramm verteilt sich auf die Ausrüstung:
2,2 kg Flüssigkeiten und 3,4 kg Radausstattung, u.a. mit der Analogkamera am Lenker, sowie die 4,4 kg des SaddlePack. Was sich darin und sonst am Rad für Utensilien befinden, habe ich hier aufgeschlüsselt (Foto tinyurl.com/alle16d):
• Frühstück: Tauchsieder, Becher, Handdruck-Espressogerät, Siebträgertauglicher Arabica; flache Schüssel zum Anrühren der Notration (s.u.); Teebeutel.
• Radkluft: Gut sichtbare Handschuhe & Socken. Weste und Armlinge.
• Radunterwäsche, Radhose, zwei Trikots, Stirnband.
• Regen-/Wind-Ausrüstung: Ultraleichtjacke, GoreTex-Jacke und -Shorts, NoRain-Knielinge, Überschuhe, Helmüberzug, Schirmmütze.
• Flaschen befinden sich zwei am Rad, erstens eine 1-Liter-Thermosflasche (heiß/kalt befüllbar) und zweitens eine Box bestückt mit Pumpe, Ersatzschlauch, üblichem Notwerkzeug sowie Ventil-Adapter, um sich an Tankstellen Luft zu genehmigen. Drittens mit von der Partie, im Hüftgurt: zwei Flaschen à 600 Milliliter.
• Abendkluft: T-Shirt, Jeans, 130-Gramm-Barfußschuhe.
• Elektronik: Smartphone, zusätzlich GPS-Gerät; PowerBank mit mindestens 30 Wattstunden, Ladestecker mit zwei USB-Kabel-Eingängen.
• Analog: Nikon FM2 und acht Ilford Delta 400 ›Professional Black&White Film‹ (dafür vorfrankierte Einsendeumschläge).
• Sicherheit (s.a. ›Flaschen‹): Pocket-Kabelschloss, Radbeleuchtung, Straßenkarte 1: 850.000, ISBN 9783961320004.
• Notrationen: Haferflocken, Mandelmilchpulver, Isomaltulose-Riegel und -Getränkepulver, Baobab-Fruchtpulver, 50 ml Olivenöl, Salz; etwas Duschgel, um sich und die Radklamotten zu waschen.
• Neben frei erhältlicher Schmerzmedikation: rezeptpflichtiges Novaminsulfon (= Metamizol); ein Magnesiumpräparat für die Muskeln.
• Taschen: SaddlePack, auf den sich bei Bedarf ein Säckchen auf-schnallen lässt (Spannbänder nicht vergessen); lenkernahes Täschchen für die PowerBank; wasserdichte Smartphone- sowie Kamera-Hülle.
Auf der Wesersüdseite öffnet soeben Bäckerei Meyer – Chance für ein zweites Frühstück. Kauend hocke ich auf dem Treppchen zur Bäckerei. Ein alter Mann mit Seemannsbart