Zwei Räder, ein Land. Martin C Roos
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9.25 Uhr. Hinter Havekost sinkt meine Stimmung. Am auflebenden Gegenwind liegt es nicht. Der Stimmungsknick kommt wegen einer Straße und wegen eines Anrufs, der mich dort ereilt. Die Straße hört auf den Namen B213, ist bis Wildeshausen stark befahren und ohne Alternative. Das Telefon klingelt, aber ich halte erst in Wildeshausen, um zurückzurufen. Es ist der Kreisverband Melle, Deutsches Rotes Kreuz. Der Verband hat eine Stiftung, die Bedürftigen hilft. Ich wollte in Melle ehrenamtliche Besuchs- und Pflegehilfer*innen befragen. Nun erhalte ich eine Absage: »Wir befinden uns in einer Umbruchphase und müssen von Ihrer Anfrage Abstand nehmen.« Schade. Das Thema Ehrenamt hatte mich über Wochen beschäftigt. »Ohne Ehrenamt« so eine amtliche Verlautbarung »ist unsere Gesellschaft überhaupt nicht zu denken, sei es im Sport, bei der Arbeit mit Behinderten, im Naturschutz – in allen Bereichen des öffentlichen Lebens«. Ich hatte einen niedersächsischen Reitverein kontaktiert, der mir durch zwei Transparente aufgefallen war. Aufschrift Nummer eins lautete ›Rettet das Ehrenamt‹. Gab es in Deutschland tatsächlich Nachwuchsprobleme? Die zweite Aufschrift gab mir vollends Rätsel auf: ›Mit Reiten gegen Formalismus!‹ Ich hatte an den Reit- und Fahrverein Isernhagen mehrere Emails geschickt und einen Brief, den ich Wochen später nochmals per Fax versandte. Keine Antwort. Doch Wildeshausen, wo ich nach B213 und der DRK-Absage erschlafft am Straßenrand kauere, bringt mir unverhofft etwas Gutes: einen Anruf aus Isernhagen. Eugen Klein entschuldigt sich für die späte Rückmeldung. Dann zieht der 2. Vorsitzende des Reitvereins vom Leder: Das mit dem Ehrenamt in Deutschland laufe alles andere als traumhaft, sondern eher alptraumhaft – speziell in Niedersachsen, moniert der hauptberufliche Rechtsanwalt. Er beklagt den bornierten Fleiß des Landesamts für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit: »Die Tätigkeitsbereiche der Ehrenämtler müssen immer weiter professionalisiert werden. Um zum Beispiel bei einem Reiterfest Hausgemachtes auszuschenken, braucht es jedes Mal formale Genehmigungen. Bewilligt werden muss sogar, wenn wir bei einem Fest mit den Pferden die Straße queren möchten.« Bald, so fürchtet die Vereinsleitung, mag sich niemand mehr die große Mühe machen für diese kleinen Veranstaltungen.
Nach Telefonat und Gedächtnisprotokoll verlasse ich eilends den ungemütlichen Telefonposten am Straßenrand, um einen guten Rastplatz zu suchen. Ich finde ihn beim Verein ›Jesus Zentrum‹. Er hat bei Tageskilometer 60 ein Gemeindehaus, drinnen probt ein Chor. Auf der anderen Straßenseite lockt der Schatten eines Picknickplatzes. Ich sehne mich nach einem Nickerchen. Doch kaum bin ich auf schattiger Holzbank gebettet, schellt erneut das Telefon. Ich erhalte eine weitere Absage.
Vierzig Kilometer weiter von hier, am Dümmer, hatte ich mich für den Nachmittag mit einer Dorfhelferin verabredet. Diesen Beruf gibt es in nur wenigen Bundesländern. Ich will wissen, was dahintersteckt. Im Sozialen muss Niedersachsen sich mehr Sorgen machen als andere Länder. Demographen rechnen vor, die Einwohnerzahl werde in den nächsten Dekaden um eine halbe Million schrumpfen. Halbwegs stabil war die Zahl bislang nur durch Zuwanderung, denn die Geburtenziffer pro Frau beträgt nur 1,6. Eine Ziffer von 2,1 Kindern pro Frau wäre nötig für Stabilität, aber das hatte Niedersachsen zuletzt im Jahr 1971.
Die Helferin aus Hüde erklärt am Telefon, für eine erkrankte Kollegin einzuspringen – ob ich nicht morgen könne. Nein, erkläre ich, da verlasse ich bereits Niedersachsen. Wir beenden unser Telefonat, ich bin frustriert, meines engen Zeitkorsetts wegen, das wenig Flexibilität zulässt. Und heute ist erst der vierte von 24 Fahrtagen. Zunehmender Schlafmangel lähmt mich – und der selten abflauende Gegenwind.
Lieber sollte ich schätzen, dass technische Widrigkeiten bislang ausblieben. Weiterfahren! AllesPrimaMechanismen aktivieren! Sing doch was, wie wär‘s mit Mireille Mathieu: Es geht mir gut merci chérie – nein, besser die flache Jukebox am Lenker anschmeißen: DeepHolz, Tech-House-Mix, made in Rosenheim, Schlag-mir-den-Takt-zum-Tritt!
Fühlen sich die Schenkel nach vier Tagen allemal schon drall an: Im Tech-Takt fangen sie an zu brennen; ich will schnell durch das am dünnsten besiedelte Gebiet im westlichen Deutschland. Dröhnende Wärme staut sich unterm Radhelm, ich passiere Düste, Dreeke und Diepholz. Dann kommt der Dümmer, der See, Kilometer 400. Doch die Lust zu plantschen ist mir vergangen. Badezeug rauswühlen, jemanden bitten, aufzupassen auf Rad plus Gepäck: zu mühsam, zu riskant. Zudem zeigt die Uhr schon 16.27 und mir fehlen noch vierzig Kilometer.
Weiter, weiterfahren, Wiehengebirge, wonnig am Horizont. Doch die Begeisterung fürs erste Hügelein seit Holstein ist hinüber. Heiße Winde und schlechte Radwege zermürben mich. ›ACHTUNG‹, darunter der Zusatz ›Radweg-Schäden‹. Wie oft las ich das heute schon? Wie viele Male hab ich die gute alte Radwegnutzungspflicht umfahren und mich zu den Kraftwagen geschummelt? Immerhin: Hupend gemeckert hat noch keiner.
Hinter Stemshorn schneide ich für einige Minuten NRW an. In Bohmte finde ich eine Infotafel, deren Text von Loriot stammen könnte. Bohmte liegt an der Deutschen Fachwerkstraße und hat das Baudenkmal Hof Wellner. Prächtiges Fachwerk schmückt den Hof, prächtig ist auch der Erklärtext zum Denkmal: ›Verputzte Gefache, Giebel dreimal flach vorkragend über profiliertem Balkenstummel und Schwellbalkenüberstand‹.
Kilometer 423: Ein Hauch von Gebirge
Nurmehr der Mittellandkanal ist zu queren, dann kann ich hinter Bad Essen die Berge stürmen. Obwohl: Viel Saft ist nicht mehr drin in den Muskeln. Bevor die Serpentinen beginnen, kaufe ich mir in Notfallmanier ein koffeinhaltiges Zuckerwasser an einer Bratwurstbude. Sie ahmt Fachwerk mit Kunststoff nach und ist umlagert von Auto- und Motorradfahrern. Ich bin jetzt im südlichsten Zipfel des einstigen Kurfürstentums Hannover, versuche mich im hitzeschlaffen Zustand am Wahlspruch des Fürstentums aufzubauen: Nec aspera terrent, auch Widrigkeiten schrecken nicht. Wenn ich angesichts schlapper 28 Grad Celsius bereits wüsste, was mich auf gleichem Breitengrad in Brandenburgs Luckenwalde bald an Hitze droht, ich würde wohl nur müde lächeln, hier an der Steilstrecke zwischen Bad Essen und Essenerberg. Es geht hinauf ins Wiehengebirge, bescheidene 180 Meter über dem Meeresspiegel, danach steil hinunter nach Oldendorf. Über ein 14-Prozent-Gefälle rausche ich gen Tal, wo ich, kurz vor dem Ziel, sie dann doch noch bekomme: die Radwegschmäh-Vergeltungshupe (weil ich auf der Hauptstraße fahre, nicht nebendran, auf der unwegsamen Radspur). In Sachen Huper oder Huperin tippe ich auf Mann mit Hut und Klorollen-Häkelüberzug. Doch es ist ein Motorradrocker in Lederkluft, Osnabrücker Kennzeichen.
Höhenprofil der vierten Etappe: Mit 120 Kilometern Anlauf gerät selbst das mickrige Bergfinish im Wiehengebirge (im Fahrprofil rechts) zur kleinen Herausforderung.
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