Stille, Ekstase, Glück. Armin Heining
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Читать онлайн книгу Stille, Ekstase, Glück - Armin Heining страница 4
»Hm.« Ulrich nickt nachdenklich.
»Das kann ich nachvollziehen. Wenn niemand da ist, der deinen Wunsch nach der Nähe Gottes teilt, macht das einsam.«
Ich hätt’s nicht besser formulieren können.
»Stimmt genau. Nur versteht das in meiner Familie niemand. Wenigstens habe ich mit meinem Beichtvater Glück: Ihm kann ich mich bedenkenlos anvertrauen; er weiß immer einen klugen Rat und …«
»… und er hat dich auf Klöster aufmerksam gemacht«, bringt Ulrich meine Erzählung auf einen knappen Punkt.
»Hat er. Weil ich ihm erzählt habe, dass ich auf der Suche nach Gemeinschaft bin, in der ich mit meiner Sehnsucht nicht alleine bin. Kirchenbesuche sind mir zu wenig, zu kurz, zu flüchtig, bleiben nur an der Oberfläche.«
»Wieso hast du dich für uns entschieden? Es gibt einige andere Klöster im Umkreis: Schweickelberg, Niederalteich, Plankstetten, Beuron, Weltenburg.«
»Ich bin ein praktischer Mensch, Metten ist am nächsten«, entgegne ich trocken.
Wir sehen uns an und müssen beide lachen.
»Aber du merkst ja, dass dein praktischer Verstand nicht die verkehrteste Entscheidung für dich getroffen hat: der Benediktinerorden ist dem Gebet verpflichtet, aber auch der Welt zugewandt – im Gegensatz zu den strengen, kontemplativen Ordensgemeinschaften.«
»Diese Ausgewogenheit mag ich. Sie klingt ja auch in eurem Motto, also dem Motto der Benediktiner an: ›Ora et labora‹.«
»Unser Dienst ist es Gott zu loben. Die Arbeit der Mönche ist das Gebet, selbst wenn wir essen, ist das Gottesdienst.«
Mit einer Ehrfurcht, die ich selten an mir erlebt habe, antworte ich: »Ihr seid nicht zu radikal, das Pendel schwingt in keine Richtung zu weit. Dieses rechte Maß, diese innere Ausgewogenheit suche ich auch für mich selbst.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, antwortet Ulrich mit einem freundlichen Lächeln. »Du bist noch jung, das wird schon.«
Ich bin zu jung – erst sechzehn Jahre – um eine endgültige Entscheidung jetzt gleich treffen zu dürfen. Erst muss ich das Abitur haben, dann darf ich um Aufnahme in diese Gemeinschaft bitten. Aber schon jetzt spüre ich den starken Einfluss des ›Klosters auf Zeit‹.
Zu Hause in Cham stehe ich zwar für meine Verhältnisse auch zeitig auf, um vor der Schule noch die Frühmesse zu besuchen, was mir sehr wichtig ist. Aber hier beginnt der Tag bereits um vier Uhr vierzig. Das ist gewöhnungsbedürftig. Richtig wach bin ich noch nicht, wenn ich gemeinsam mit den Mönchen das erste Gebet spreche.
Überhaupt die Gebete – morgens, mittags, abends nebst Dankgesängen nach Mittag- und Abendessen. Jeweils verschiedene Gesangbücher: dickes Gesangbuch morgens und abends, ein schmales zum Mittag. Die Sprache wechselt: Mittagsgebet auf Deutsch, die anderen in lateinischer Sprache. Das ist verwirrend. Aber ich weiß Ulrich an meiner Seite, der mir geduldig Auskunft gibt.
Kurz nach meiner Ankunft musste ich gleich ins kalte Wasser springen, weil das Abendgebet bevorstand und ich von nichts eine Ahnung hatte. Denn der Klosterritus hat wenig mit dem Gottesdienst in meiner Stadtpfarrkirche gemein.
»Meinst du denn, dass ich mich zurechtfinde? Ich will ja auch nichts falsch machen.« Nicht, dass ich die Abläufe durcheinanderbringe oder so.
»Folge mir einfach und mach mir alles nach. Du wirst am äußersten Platz im Chorgestühl stehen. Zuerst singen wir vier lateinische Psalmen«, antwortete Ulrich beruhigend.
Wenn er wüsste: auch noch Latein! Das Schulfach, das mir am meisten zuwider ist.
Ulrich schlug das Antiphonale auf, einen dicken, ledergebundenen Wälzer, und zeigte mir anhand der farbigen Lesezeichen die unterschiedlichen Gesänge.
»Dann setzen wir uns und hören aus der Heiligen Schrift. Danach singen wir das Magnificat wieder im Stehen. Es ist der feierliche Höhepunkt des kirchlichen Abendgebets, der täglich wiederkehrende Lobgesang Mariens.«
Die entsprechende Seite war mit einem lilafarbenen Band gekennzeichnet.
Punkt achtzehn Uhr war es dann so weit. Erstmals stand ich mit den Mönchen im Halbrund des Chorraumes hinter dem Hochaltar der barocken Abteikirche. Im Gegensatz zu den kalten Gewölbegängen im gleichen Stockwerk ist die Apsis stets geheizt und wohlig warm. Das dunkle Chorgestühl mit seinen aufwendigen Schnitzereien bildet einen Halbkreis mit Blick auf das kunstvolle geschnitzte Lesepult des Kantors. Über den klappbaren Sitzen ist ein kleiner Vorsprung für das Steißbein; eine spürbare Entlastung für den Körper während des langen Stehens. Frater Ulrich wies mir den für mich reservierten Sitzplatz ganz außen in der Stuhlreihe zu.
Auf den ersten Schlag der Glocke setzte das zarte Spiel der Orgel ein. Hervorgehoben an der Stirnseite erklang Abt Bertholds hohe Stimme: »In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
Mit einem lang gezogenen »Amen« antworteten alle Mönche. Auf Latein sang ich mit ihnen das kirchliche Abendgebet. Ich beobachtete den Mönch neben mir ganz genau, um mir abzuschauen, wann ich mich verneigen oder mich aufrichten sollte, wann ich sitzen, stehen oder knien musste.
Den größten Eindruck auf mich macht aber das außerordentliche Zeremoniell, das den Auszug der Mönche aus dem Chorraum zum Speisesaal begleitet: Wenn sie über die Schwelle des Chorraumes treten, wird die große, spitz zulaufende Kapuze, die zum Mönchsgewand der Benediktiner gehört, weit über den Kopf gezogen. Tief verhüllt schreiten sie in einer Prozession durch den barocken Kreuzgang zum Refektorium. Ich hinter ihnen, zivil gekleidet, bin von diesem Bild der Weltabgewandtheit sehr beeindruckt. Erst beim Eintreten in den Speisesaal fällt die Kapuze wieder.
Wenn ich den hell erleuchteten Raum betrete, stelle ich mich ebenso wie die anderen Mönche hinter meinen Platz. Während die Mönche ihre gefalteten Hände unter dem schwarzen Gewand verbergen, senke ich wie sie den Kopf und lausche dem Tischgebet des Abtes. Mit einem lauten »Amen« dürfen wir uns setzen.
Symbolisch für die Abgeschiedenheit im Kloster streifen die Mönche die Kapuzen noch einmal über. Der Blick bleibt demütig gesenkt, während das Wort aus der Heiligen Schrift vorgetragen wird.
Erst wenn die Servitoren die Suppe auftragen und die Tischlesung beginnt, nehmen sie die Kapuze wieder ab.
Alle schweigen andächtig und blicken auf den Teller. Nur der Mönch, der mit der Tischlesung betraut ist, erhebt seine Stimme. Während wir essen, liest er zuerst aus der Bibel, später aus einem Reiseroman.
An diesen Bräuchen hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert: Zur immer gleichen Stunde in der immer gleichen Weise passiert jeden Tag das Gleiche. Und im Jahre 1976 bin ich auf einmal mittendrin, darf mitwirken und die Tradition fortleben lassen. Seit an Seit mit geweihten Mönchen, als gehörte ich zu ihrem Konvent. Hier einen Platz zu haben, willkommen zu sein, ergreift mich tief in meinem Herzen.
»Wie ist dein Eindruck? Kannst du dir vorstellen, hier zu leben – oder überhaupt in einem Kloster?«
Ulrich und ich haben soeben einen Klosterrundgang über das erstaunlich weitläufige Gelände beendet. Mit den Werkstätten und Betrieben, der eigenen Stromgewinnung ist es so gut ausgestattet wie ein kleines Dorf.
Und das Hauptgebäude ist natürlich sowieso beeindruckend