DER ÜBERHEBLICHE. Dr. Friedrich Bude
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Überraschender kam für die Thüringer Bevölkerung Anfang Juli 1945 der Besatzungswechsel. Die Frage der Rückverlegung der amerikanischen Truppen aus künftigem sowjetischen Besatzungsgebiet in die ihnen zugewiesene Zone war Mitte Juni in ein entscheidendes Stadium getreten und nach einem Briefwechsel zwischen Stalin und Truman für die Zeit ab 1. Juli 1945 befohlen worden.
Der Einmarsch der Roten Armee begann am 2. Juli 1945 in Ostthüringen durch die 8. Gardearmee unter Generaloberst Tschuikow, die in Stalingrad gekämpft, Berlin mit erobert und dann in Sachsen stationiert war.
05.09.45 Kriegstagebuch Ernstine Bude:
Seit 1. Sept. gibt es neue Lebensmittelkarten. Die Empfänger in 6 Gruppen: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter (zu denen unser Betrieb gehört), Kinder von 3 - 5 Jahr. bis Schüler und Angestellte, Sonstige, Hausfrauen u. alte Leute. In der Gruppe Sonstige gibt es weder Fleisch noch Fett oder Butter. Die Tagesration ist folgende: 200 gr. Brot, 10 gr. Nährmittel, 30 gr. Marmelade, 15 gr. Zucker, 0 gr. Fleisch u. Fett. Die nach uns kommen und sich geregelt ernähren können, mögen sich das vorstellen und nach Bedarf genau überdenken. Sie werden auch begreifen, daß wir ohne Mühe eine schlanke Generation geworden sind. Raucher bezahlen im Schleichhandel für eine Zigarette 5 - 8 RM (Reichsmark). Wir fertigen in unserer Werkstatt eine mittelmäßige Küche für 450 bis 580 RM, dafür bekommt man gerade ein Pfund Kaffee (300 - 800 RM).
Morgens schon schwül-warm. Mutti hantiert in der Küche.
„Ich 5-jähriges Sonntagskind hocke am Fenster, denke darüber nach, warum der Storch, als Belohnung für auf dem Fensterbrett ausgestreuten Zucker, Babys bringt. Wie er das macht, das Tuch mit dem Baby im Schnabel! Er kann sich doch gar nicht auf das schmale Fensterbrett setzen! Wir wohnen ganz oben im 3. Stock von Oma Knorrs Haus. Da kommt der Storch leicht ran. Wie soll das aber bei den unteren Stockwerken funktionieren, bei dem schmalen Hofgang zum Nachbarhaus?“
Markt 7, das größte Haus am Platz. Die städtische Feuerwehrleiter wurde danach gebaut.
Die drei Türme bilden den Blickfang der oberen Marktseite.
Es hat auf der oberen Marktseite den dritten großen Turm. Einige Häuser weiter steht das Rathaus mit dem zweiten Turm. Gleich hinter der Rathausecke überragt der Kirchturm beide.
Auf unserem Dachboden im Turmgewölbe ist es dunkel. Dort eine runde Luke, seine große Schwester Renate hat ihn einmal hochgehoben, man kann über die ganze Stadt sehen. Früher wurde bei Festlichkeiten, wie der 600-Jahrfeier, dort immer eine große, sehr lange Hakenkreuz-Fahne rausgehängt. Jedenfalls ist das auf den vielen schönen Fotos zu sehen, die Opa gemacht hat.
Schmölln, Markt 1958
Opa ist tot, betitelt als Ratsuhrmachermeister war er für den richtigen Gang aller Stadtuhren verantwortlich. Albrecht, Frieders großer Bruder, durfte Opa helfen, täglich in den Kirchturm steigen, die Turmuhr aufziehen. Muss spannend gewesen sein. Jetzt ist Opas großes Geschäft geschlossen. Die lange Fahne liegt noch auf dem Boden, wird aber nicht mehr rausgehängt, weil das abgetrennte Hakenkreuz dort einen hellroten Fleck hinterlassen hat, ihre wahre Vergangenheit verrät.
Vom Küchenfenster kann man weit runter in den schmalen Gang bis zum Hof sehen. Frieder traut sich nur selten, bekommt Angst vor der Tiefe unter ihm. Aber geradeaus hat man einen schönen Blick auf die Dächer der oberen Marktseite - und die anderen beiden Türme. Noch schöner ist es, im Turm-Erker des Wohnzimmers zu sitzen. Aus drei Fenstern sind alle Seiten des großen Marktes zu überblicken. - Ihnen entgeht somit nichts!
Früher hatte er neben Mutti am offenen Erker gehockt: an den Fenstern der meisten Häuser rundum standen Leute, Musik hat gespielt. Alle streckten wie Mutti die Hand raus - das war der Hitler-Gruß!
Als Frieder so nachdenkend über Klapperstorch und Kinderkriegen am Küchenfenster hockt, klingelt es zweimal - ganz heftig. Mutti kommt, guckt mit ihm aus dem Fenster den steilen Hofgang runter. Unten stehen zwei Polizisten und rufen:
„Ihr Haus wird von der russischen Kommandantur bezogen. In zwei Stunden muss das Haus geräumt werden. Außer Koffern darf nichts mitgenommen werden!“
Vieles ist dem kleinen Frieder danach verschwiegen worden. Aber er weiß noch, mit welcher Eile Vater aus der Werkstatt geholt wurde. Die Tischlerei stand drei Straßen weiter am Bahnhofsplatz neben dem Haus der Budens-Oma. Dort wohnten auch Tante Anneliese und sein riesengroßer Cousin Henner. Onkel Heinz, in russischer Gefangenschaft, war Tapezierer, betrieb die Polsterwerkstatt, welche im Nebengebäude untergebracht war.
Die nächsten Stunden stand er nur im Wege! Bruder Albrecht und mehrere Gesellen schleppten heimlich Möbel aus dem dritten Stock nach unten.
Frau Hoffmann hatte im Hof gerade Wäsche aufgehängt. Sie musste die großen Betttücher so umhängen, dass den Polizisten, welche an der Hausecke am Markt standen, der Blick durch den schmalen Gang bis in den Hof verdeckt wurde.
Vom Ende des langen Hinterhofes gelangte man in den Garten. An Apfelbäumen vorbei ging es über schmale Treppen zwischen Büschen im Zickzack den steilen Berg hoch. Dort stand links im benachbarten Fleischereigrundstück ein Holzgerüst. Dieser mehrere Meter hohe Bretterverschlag, im Viereck um eine Wasserspritze angeordnet, diente winters als Eismaschine. Wenn diese bei Minusgraden sich drehte und Wasser versprühte, bildeten sich rundum an den Holzwänden dicke Eisschichten, welche abgeklopft, im Eiskeller des Berges unterhalb des Gerüstes Fleisch und Wurst frisch hielten.
Einmal war der Antrieb defekt, die Spritze drehte sich nicht. Der Wasserstrahl zielte die ganze Nacht über die Mauer auf unser Gebüsch. Am nächsten Morgen glitzerte dort ein fester Eisberg in der Sonne, rau, hüglig, mit Schluchten und Spitzen bis zur Laube des oberen Gartenteiles. Man konnte drauf rumklettern. In Frieders Fotoalbum gibt es ein imposantes Bild mit dem Untertitel: „Ich auf dem Eisberg.“
Vom oberen Garten führte durch ein festes hohes Tor die Treppe wieder runter bis zur Schulstraße. Gegenüber unser Felsen, steil zum Klettern und Spielen, dahinter die Lohsen, unser Stadtwald.
Vor der Russenbesetzung schleppten Albrecht und Tischlergesellen die Möbel im Schutz der Hoffmannschen Bettwäsche durch den Garten bis zur Schulstraße. Dort stand schon ein Platten-Handwagen. Ab ging es durch die Stadt zur Budens-Oma am Bahnhof. Das dortige Möbellager, während des Krieges sowieso leer, wurde jetzt wieder voll gestellt. Auch vom Studienrat Brodeck kamen später noch Möbel rein; große, mit Schnitzereien versehene Schränke, welche dem Raumbedarf von Besatzung und Flüchtlingen weichen mussten.
Nach dem Rausschmiss wohnten sie in Oma Budes Schlafzimmer am Bahnhof. Frieder hat das nicht gestört. Jetzt konnte er oft in der benachbarten Tischlerei zusehen. Das war interessant. Vor allem, wenn gehobelt wurde, die Späne mit einem großen Ventilator durch dicke Rohre über das Dach in einen Holzverschlag gesaugt wurden. War dort die obere Tür offen, konnte man hinein springen und rumtollen.
Eigentlich durfte er nicht im oberen Stock der Tischlerei bleiben. Dort arbeiteten die Gesellen an Hobelbänken, wo er unerwünscht war. Aber von Omas Wohnung gelangte man auch durch Tapeziererwerkstatt und Tischlerei in den Hof, weshalb er diesen Weg meist neugierig nutzte.
Wenn der Zug am Haus vorbei ratterte und fauchte, konnte man aus Omas Fenster alles beobachten. Die Betriebsamkeit der „Bahner“ ganz oben im Stellwerk verfolgen, wie