Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers
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Читать онлайн книгу Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers страница 6
Da konnte tatsächlich etwas dran sein. Irgendeine Glocke klingelte Alarm. Kopf oder Bauch, wo genau wusste er noch nicht. Hoffentlich konnte er Sonja noch einmal motivieren, ein bisschen herumzutelefonieren. Zumindest gab es Schlampigkeiten, und er hasste Schlampigkeiten, weil Schlampigkeiten im schlimmsten Fall Leben kosten konnten. „Du dramatisiert mal wieder", nein, das war nicht Fido, der schlief immer noch, das war seine innere Stimme. „Nein!" Das war nicht seine innere Stimme, das war seine äußere, laute. „Stimmt doch, Boxer, oder?"
Fido hatte sich aufgerichtet, das hieß: „Du hast Recht, Alter, aber jetzt sollten wir mal ein Spielchen machen, gucken, wer von uns beiden stärker ist zum Beispiel, oder wenigstens mal einen längeren Spaziergang machen, und zwar sofort!" Eigentlich wollte Stojan seine Recherchen noch auf den Hochsauerlandkreis ausweiten, aber hier sah er weniger Potenzial für neue Hinweise und Denkanstubser und außerdem war er jetzt zu sehr angestachelt für einen objektiven und klaren Blick. Er schloss sämtliche Fenster am PC, meldete die nicht anwesende Sonja ab, stand auf und streckte seine Glieder von sich. Das hieß: "Du hast Recht, Boxer, los, raus hier!". Sonja würde ihm bestimmt nochmal eine Gelegenheit verschaffen, ein bisschen unter fremder Flagge herumzuschnüffeln. Er hatte schon ein paar Mal in dem Ordner geblättert, aber jetzt war er entschlossen, Irene Altmans Mörder zu finden.
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Dienstag, 9.2.16
Er hatte seinen großen Schreibtisch so vor das Fenster geschoben, dass er von seinem bequemen Sessel aus durch eine kleine Kopfbewegung nach links den Blick vom Computermonitor aufs Rothaargebirge lenken konnte. Für seine Gedanken und seine Fantasie hieß das: Los, schweift umher, oder: Erinnert euch, was fällt euch ein, was fällt euch auf? Oder umgekehrt nach rechts: Wo steht das nochmal? Ein Grund, die Maus wieder in die Hand zu nehmen, hin- und herzuschieben, auf die Tasten zu drücken. Der Blick nach unten richtete sich dann auf den aufgeschlagenen Ordner. Seitdem er und seine Gleitsichtbrille nach schwieriger Erprobungsphase sich an ihre jeweiligen Eigenheiten gewöhnt hatten, funktionierte das erstaunlich gut. Diese drei Akten, die Wundkrater in seinem Leben, seinem Berufsleben allemal: Er wollte, dass sie sich endlich schlossen, sich beerdigen und ihn in Frieden ließen. Drei Kriminalfälle, staatsanwaltlich abgeschlossen, ohne dass eine Täterermittlung gelungen war, drei in vierzehn Jahren, in denen er die Mordkommission geleitet hatte. Keine schlechte Bilanz, aber eben auch keine perfekte. Eigentlich gehörten die Ordner ins Polizeiarchiv der Stadt Schmallenberg, aber da vermisste sie im Moment niemand, wie ihm Sonja versichert hatte. Sie hatte sie ihm schon vor Weihnachten besorgt und seitdem war kaum mal eine Woche vergangen, in der er nicht wenigstens einmal in einer der schweren Kladden irgendetwas nachgeschlagen oder auch nur ziellos geblättert hatte. Und jetzt hatte er etwas entdeckt, vielleicht ein Puzzleteilchen, eine Schlüsselkarte, ein Heilpulver für alte Wunden. Jedenfalls für die Wunde Altmann.
Die Ermittlungsakte S 6744013, Altmann, Irene, wurde am 27. Februar 2014 geschlossen. Für Jankowski war es Weiberfastnacht oder Wiewerfastelovend; an Karneval pflegte er gerne seine rheinischen Wurzeln, die die Kollegen ihm aber nicht so ohne weiteres abnehmen wollten. Sie vermuteten, dass er sich lediglich einen Anlass zunutze machte, um seine chronische Feierlaune zu bedienen. Jedenfalls ein Tag, an dem alles egal und erlaubt war. „Es gibt sonst kein Wort in keiner Sprache in keinem Land, in dem wie und wer steckt, Ende und Liebe und schnell und immer“! Damit konnte er zwar nur noch diejenigen verblüffen, die entweder neu in seiner Umgebung waren oder bereits an fortgeschrittener Demenz litten. Die anderen unterstellten ihm selbst gerne dasselbe, packte er doch trotz der anfangs noch wohlgemeinten Hinweise auf den falschen Buchstaben immer noch „ever“ mit in das Zauberwort, das längst nicht alle im Sauerland kennen, geschweige denn richtig aussprechen können.
Für Stojan war es allerdings ein eher trauriger und besinnlicher Tag gewesen. Wenige Wochen später war er aus dem Dienst ausgeschieden, fast ein halbes Jahr früher als geplant, aber mit angesparten Urlaubswochen und krankheitsbedingten Arbeitszeitverkürzungen hatte man ihm das so vorgeschlagen und er hatte weder Lust noch Kraft verspürt, anderer Meinung zu sein. Und derjenige, dem er zuhause das Sagen und Meinen überließ, und zwar gerne, war schon der damals drei Monate alte Boxerrüde, der ihm auch in der ersten Phase seines Ruhestands Langeweile und Larmoyanz rasch ausgetrieben hatte. Fido war kein großer Schmuser, gelegentliches Tätscheln seiner Flanke oder Streichen über den Rücken musste reichen und wurde dann aber auch schnell und unmissverständlich als lästig nach oben gemeldet. Da auch Stojans Bedarf an zärtlichem Austausch schon immer sehr überschaubar geblieben war, beschränkte sich die Nähe zwischen Herrn und Hund meistens darauf, dass man sich nebeneinandersetzte, sei es zum gemeinsamen Zeitunglesen, Musikhören oder kleinen Imbiss zwischendurch. Da kam es dann auch schon mal vor, dass die klebrig pelzige Hundezunge hinter und über Herrchens Ohr fuhr. Ein versteckter Beobachter hätte ohne allzu großes Risiko einiges darauf setzen können, dass Mensch und Tier diese Szene genossen. Jeweils ohne es sich anmerken zu lassen, versteht sich. Und Fido sorgte dafür, dass im Hause Stojan mindestens zweimal täglich Speisen auf den Tisch und in den Napf kamen, fast nie länger als zwei Stunden am Stück gelesen oder am Schreibtisch gesessen wurde und ein ausgeklügeltes Fitness-Programm für Jungsenioren von Anfang bis Mitte sechzig mit regelmäßigen Streifzügen durch die umliegenden Wälder und Raufen, Kämpfen und Nachlaufen in dem verwilderten Garten die Balance zwischen Körper und Geist garantierte.
Altmann, Irene. Stojans Gefühl wurde stärker. Und so etwas hatte er in Ermittlungen nur zugelassen, wenn es auch Fakten gab, irgendetwas Logisches. Noch war es keine Kopfsache.
Irina Altmann war am 28.11.1992 in Kasachstan geboren, das sich gerade von Russland gelöst hatte. Ihre Eltern, Ernst und Agnes Altmann, gehörten der russischdeutschen Minderheit in Astana an und siedelten 1994 mit der kleinen Irina nach Deutschland aus. Nach etlichen Sprach- und Integrationskursen fand der Vater als gelernter Schreiner eine Anstellung in einem Sägewerk in Schmallenberg und die Mutter, eine ausgebildete Krankenschwester, einen unregelmäßigen und schlecht bezahlten Job in einem ambulanten Pflegedienst als Springerin für erkrankte oder schwangere Altenpflegerinnen. Aus Irina wurde Irene. Daten und Kommentare aus der Akte und eigene zunächst vage, dann deutlichere Erinnerungen formten vor Stojans geistigem Auge das Bild des Mädchens.
Bis auf die ersten Lebensjahre, in denen zuhause noch Russisch gesprochen wurde, war Irene über Kita, Grund- und dann Realschule vollständig in der neuen Umgebung sozialisiert worden, die Eltern hatten sich frühzeitig um Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gekümmert und weder heimatliche Traditionen noch vornehmlichen Umgang mit ehemaligen Landsleuten gepflegt. Die zunächst noch jährlichen Verwandtschaftsbesuche in Kasachstan waren nach dem Tod von Irenes Großmutter seltener geworden, der letzte hatte 2009 das Begräbnis des Großvaters zum Anlass. Samstags wurde Lotto in einer Tippgemeinschaft gespielt, sonntags aßen sie bei Pepe Pizza funghi oder Lasagne. Die Termine des örtlichen Schützenvereins waren ihnen mindestens so heilig wie den Alteingesessenen. Sie sprachen langsames Deutsch mit wenigen grammatikalischen Fehlern. Ernst machte kaum welche und war stolz darauf, korrigierte Agnes dann manchmal gerne. Im Gespräch verriet nur sein wohl unauslöschlicher harter Akzent seine Herkunft, aufmerksamen Mitbürgern mögen auch die alten, nicht mehr generationstypischen deutschen Vornamen und der in Westfalen eher unübliche Gesichtsbau, nämlich kantiger, nicht so fleischig, aufgefallen sein. Irene lief überall gut mit, ein waches, aber nicht schnelles Kind, sie wiederholte die siebte Klasse und verließ die Schule nach der zehnten Klasse mit Fachoberschulreife. Danach schrieb sie Bewerbungen und sammelte Ablehnungen, konnte sich für nichts richtig begeistern, jobbte ein bisschen hier und da und bei Pepe, was den Eltern überhaupt nicht gefiel, zumal sie nicht wussten, warum Irenchen so viel Trinkgeld bekam, für das sie sich dann noch schludrigere Kleidung kaufte als sie sowieso schon trug, wenn sie das kleine elterliche Reihenhaus am Ortsrand verließ, um sich mit ihrer Clique zu treffen.
Stojan las weiter. Er war froh, dass sich jemand Mühe gegeben hatte mit der Biografie der jungen Frau. Sie endete mit dem Beginn der Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Schmallenberger Augenarztpraxis im August 2010. Aussagen von Zugpersonal und Mitreisenden folgten, ein kopierter Fahrplan, handschriftlich