Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers
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Stojan blätterte weiter in dem Aktenordner, er konnte sich an einzelne Notizen erinnern, der Fall bekam eine zusätzliche Dimension, Irene wurde plastischer. Es gab eine Busverbindung, eine sehr umständliche, von Schmallenberg nach Meschede und dann irgendwie weiter. Von vornherein kaum wahrscheinlich, dass sie so angereist war. Ein paar Tage später hatte man den Berufspendlern Fotos von Irene gezeigt, keiner konnte sich an die junge Frau erinnern. Hatte sie die Nacht vor ihrem Tod überhaupt zuhause verbracht? Welche Sachen fehlten? Und waren nie wiederaufgetaucht? Die Mutter hatte eine Tasche erwähnt oder einen Rucksack.
Er selbst hatte die Mutter befragt, damals, in ihrem Haus, zweiunddreißig Stunden, nachdem man ihre Tochter tot aufgefunden hatte, zwanzig Stunden, nachdem man sie identifiziert hatte, sieben Stunden, nachdem man ihr die Todesnachricht überbracht hatte. Er wusste noch, dass er Agnes Altmann ziemlich gefasst vorgefunden hatte, konnte sich aber auch daran erinnern, dass er selbst unter hohen Dosen morphinhaltiger Medikamente stand und damit körperlich aber auch emotional fast schmerzfrei war. Sogar zum Chauffieren und Mitschreiben hatte er sich einen von den Jungs mit den guten Noten mitgenommen, ganz im Gegensatz zu seinen üblichen Gepflogenheiten.
Ja, gefasst war sie gewesen, das heißt, sie konnte antworten, klar genug, dass man sie verstand, aber es war unschwer auszumachen, dass er es mit einem in sich zusammen gesunkenen Häufchen Elend zu tun hatte. Tränen hatten die flüchtig aufgetupfte Augenschminke schon wieder ins Gesicht gespült. Eine Nachbarin war da, redete gelegentlich leise im Nebenraum mit dem Vater, der auch hin und wieder mal wie ferngesteuert durch die Wohnung huschte. Er hatte sich ein paar Tage frei genommen, wenn Stojan richtig verstanden hatte. Gesehen hatte Irene zuhause an ihrem Todestag niemand, der Vater verließ das kleine Reihenhaus um zehn vor sechs, um pünktlich im Sägewerk anfangen zu können. Er nahm dann das alte Familienauto. Die Mutter bekam einen Kleinwagen vom Pflegedienst gestellt, wenn sie eingesetzt wurde, und den hatte sie dann die ganze Woche zur Verfügung. So auch am 19. Februar. Ihren ersten Einsatz an diesem Morgen hatte sie in Fredeburg, ab halb sieben wurde sie da von einer alten Dame erwartet, und dann ging es knapp getaktet weiter bis elf Uhr. Ihre Tochter hatte sie am Montag zuletzt gesehen, sie hatten sich in der Küche gegen drei Uhr getroffen, zusammen etwas Obst gegessen. Sie hatte erzählt, dass sie ab sofort bis zu ihrer Prüfung montags immer frei hätte.
Dann hätte sie sich verabschiedet, sie wolle noch zu Ralf, wahrscheinlich würde sie auch da schlafen, wüsste sie aber noch nicht. Langsam schlendernd sei sie Richtung Stadt gegangen, sie hätte ihre gelbe Strickjacke getragen, einen Rucksack aufgehabt, in der Hand ihr Handy, das wisse sie genau. Sie habe dann abends oder in der Nacht nichts gehört, woraus sie hätte schließen können, Irene sei zum Schlafen wieder nach Hause gekommen. Sie seien früh zu Bett gegangen, sicher vor 22 Uhr. Am nächsten Morgen hätte sie noch eine Tasse Kaffee mit ihrem Mann in der Küche getrunken, habe sich dann fertig gemacht und sei zur Arbeit gefahren, ohne etwas von Irene gehört oder gesehen zu haben. Als sie am Mittag dann Irenes Zimmertür verschlossen vorfand, war das für sie nicht besorgniserregend. Sie vermutete sie bis zum Abend in der Praxis, vielleicht würde sie kurz mal während der Mittagspause hereinschneien, das sei alles nie fest verabredet gewesen. Kleine Snacks, die nicht verdarben oder im Laufe des Tages dann von ihr selbst oder ihrem Mann verzehrt werden konnten, hatte sie immer im Kühlschrank. Auch andere Regeln hatten sich eingespielt und dafür gesorgt, dass trotz einer gewissen Entfremdung zwischen Eltern und Tochter im Hause meistens Frieden herrschte.
„Den Schlüssel zu ihrem Zimmer hatte Irene immer an ihrem Bund und wenn sie ihre Tür unverschlossen ließ, hieß das: Eintritt gestattet, egal ob sie selbst dabei war oder nicht,“ hatte Agnes Altmann gesagt. Das habe gut funktioniert und die Mutter habe diese Zeiten unregelmäßig genutzt, um wenigstens mal eben staubzusaugen oder frische Wäsche in den Schrank zu legen. Sie tat das gerne, es war sonst so wenig Nähe übrig geblieben zum einzigen Kind. Und sie war peinlich darauf bedacht, dieses kleine Vertrauen nicht aufs Spiel zu setzen durch neugieriges Herumschnüffeln. Ob und wann sie abends oder nachts nach Hause kam, war ihnen zwar bis zuletzt nicht gleichgültig gewesen, aber sie hatten sich irgendwann daran gewöhnt und auch mit dieser Ungewissheit einzuschlafen gelernt. Besser funktionierte das, wenn sie Geräusche von Tür oder Wasserspülung vernommen oder sich wenigstens eingebildet hatten. „Mal abends zusammen ferngesehen oder zu dritt Karten gespielt, mein Gott, wie lange ist das her. An meinem letzten Geburtstag im September ist sie zum Abendessen geblieben, wir haben zusammen gekocht. Mir hat Irene einen Strauß Blumen mitgebracht. Auch dem Vater hatte sie zum Geburtstag im Juli etwas geschenkt. Eine Lederhülle für sein Handy. Schwarzgelb. Wegen Dortmund. Borussia.“ Der junge Kollege mit den guten Noten hatte teilweise wörtlich zitiert. Stojan war sich sicher, dass die letzten Worte damals in einem Tränenausbruch verloren gegangen waren.
Ralf, nein, Ralf war ihnen nicht vorgestellt worden, sie wussten, dass er manchmal in ihrem Haus und Irenes Zimmer übernachtete, wann zuletzt, wusste sie nicht. Eigentlich wusste sie nur, dass er Ralf hieß und ihr Freund sei, das hätte sie so beiläufig wie möglich mal erzählt, im April oder Mai mochte das gewesen sein. Anfangs hätte sie den beiden sogar noch ein kleines Abendessen und etwas zu trinken hingestellt, das sei aber demonstrativ nicht angerührt worden.
„Wir kennen diese Freiheiten nicht, wir waren bei den Eltern und den Großeltern, und die haben wir gefragt und die haben uns gesagt, und wir brauchten kein Geld. Wir haben es abgegeben und zusammen alles gemacht und ausgegeben für Familie. Und das war gut. Aber hier ist alles anders, mit achtzehn und eigenem Geld ist Familie zu Ende, wird nicht mehr gefragt.“ So schwer sei es ihnen gefallen, Irene ihr eigenes Leben, das ihnen so fremd war und das so völlig ohne sie stattfand, zuzugestehen.
Sie waren ja auch immer noch fremd in diesem Land, aber sie wollten nicht ewig fremd bleiben, nicht ewig anders. Noch wichtiger war ihnen: Ihre Tochter sollte nicht fremd bleiben, sollte dürfen, was die Nachbarstöchter auch durften, auch wenn sie es manchmal nicht ertragen konnten. Sie nahmen sich dann stumm in den Arm, bissen die Zähne aufeinander und schluckten ihre Wut hinunter, um sich nicht wieder Spott und Lächerlichkeit auszusetzen. Das wollten sie nämlich auch nicht ertragen. Das war ihnen sogar das Wichtigste.
„Kam Ihnen das nicht spanisch vor? Dass sie so viel Geld hatte, nach Madeira reisen konnte?“, hatte Stojan laut Protokoll nachgefragt.
„Das hat diese Modeagentur bezahlt, hat Irene gesagt. Sie müsste für die nur an einer Modenschau teilnehmen.“
„Oder ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, was ungewöhnlich war?“
Sie hätte schon lange nicht mehr nachgefragt, wenn ihr etwas komisch vorgekommen sei, sie hätte gewusst, dass sie damit auch das letzte bisschen Vertrauen verspielt hätte. „Das geht euch nichts an!“ Zu oft hätte sie Irenes Wut gesehen, zu oft diesen Satz aus ihrem Mund gehört. Ja, und einiges sei ihr mittlerweile auch egal gewesen, die Nachbarn hätten auch nicht mehr von ihren Kindern gesehen und gewusst, wenn diese in dem Alter waren. Auch ihren eigenen Geburtstag im November habe die Tochter nicht zuhause gefeiert. Sie hätte nur gehofft, dass sie ihre Ausbildung schafft, eine Anstellung findet und sich dann eine eigene Wohnung nehmen kann.
Am besten in einem der Nachbarorte.
Am Montag zuvor war Rosenmontag, da hatte der Doktor nie Sprechstunde abgehalten, das wusste sie, das sei im Ort so üblich. Die Abschlussprüfung wäre dann im April gewesen, den genauen Tag wüsste sie nicht.
„Hatte sie denn keine Freundin, mit der sie ständig zusammen war? In dem Alter haben die doch meistens jemanden, dem man alles erzählt“, hatte sich Stojan vorgestellt.
„Zuletzt eigentlich nicht, dass ich wüsste, aber was wusste ich schon. Früher, ja, Nicki hieß die, mit der war sie seit der Grundschule zusammen und mit der ist sie später zur Realschule gewechselt. Die beiden Mädchen haben auch ein paar Mal ihren Geburtstag zusammen gefeiert, die waren nur einen Tag auseinander, ein Jahr und einen Tag, glaube ich.“
„Nicki?“