Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

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Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers

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Wie immer, okay? Und gib uns das hintere Zimmer, wenn ´s geht!" Schließlich wollte er, wenn er schon für dreieinhalb essen sollte, das wenigstens ohne fremdes Publikum tun. Denn außer Fido kam ihm jetzt kein netter Mitesser in den Sinn, den er auf die Schnelle motivieren konnte. Aber er hatte auch noch nicht überlegt.

      „Jetzt geht´s los, ja, endlich Fido, der Abend ist gerettet." Er stöberte noch ein bisschen in seinem Bücherregal. Bücherregal war schon ein bisschen Understatement. Eigentlich war es sein ganzer Stolz. Andere, deren Meinung ihm nicht egal war, konnten ihm eine Freude machen, wenn sie von seiner „Bibliothek“ sprachen. Mittlerweile dürften sich an den drei fensterlosen seiner sechs Wände an die zweitausend Bände angesammelt haben, zählte man die Schachbücher, Kochbücher und Reiseführer nicht mit. Tasso las in der Regel gerne von ihm ausgeliehene und empfohlene Bücher, jetzt wollte er etwas sorgfältiger aussuchen als das letzte Mal. Da hatte er aus der Ecke, in der er besondere Schätze hortete, eben Lieblingsbücher, Tasso als Leihgabe anlässlich einer ähnlich spontanen Selbsteinladung wie heute wahllos drei Bücher gegriffen, von denen er lediglich annahm, sie Tasso nicht früher schonmal geliehen zu haben.

      Drei Wochen später hatte Tasso ihn mit sorgenvoller Miene empfangen: „He, Peter, was ist los mit dir? Brauchst du eine Frau oder mal ein paar Blumen, oder bunte Pillen? Merkst du nicht, dass du nur Geschichten von melancholischen alten Männern liest? Oder bist du etwa selbst einer?" Trotz seines wie fast immer fröhlichen Gesichts schien er ernsthaft besorgt und Stojan war ein bisschen erschrocken.

      So hatte er das noch nie gesehen, aber tatsächlich: Wer wollte, konnte das so sehen. Die ersten beiden Bücher hatte er schon vor vielen Jahren und dann mehrmals gelesen, der Kirchhoff war noch nicht so alt. „Zufall, aber wahrscheinlich können die besseren Sachen und die, die etwas Nachhaltiges an sich haben, nicht auch noch dauernd komisch sein.“ War sein erster Verteidigungsversuch. „Ich denk' mal drüber nach, und dann stöbere ich in meiner Bibliothek nach Alternativen. Okay?“ Sein zweiter. „Außerdem, ich glaube, ich stand immer schon auf ein bisschen dunkleren Tönen, und Melancholie ist ja nicht Depression, bei mir jedenfalls nicht, aus so einer Stimmung kann ich für mich eher positive Energie und Kraft ziehen als aus dem Ganzen möglichst heiter und lustig und laut und Schenkelklopfen, koste es, was es wolle. Ich kann mir die Ungemütlichkeit gemütlich machen, Gedichte und leise Klaviermusik am offenen Kamin im November, und draußen Nebel und an die Scheiben klatschender Regen, das zieht mich hoch, Schützenfeste und Schlagerparaden ziehen mich aber richtig runter. Das war schon immer so, und apropos Schlager: gute Songs oder Chansons habe ich immer geschätzt, Franzosen, Italiener, ich mag auch eure Farandouri. Ich habe zwar nie etwas verstanden, aber hab sie immer als etwas schwermütig empfunden und gerne gehört. Bei uns gab es mal eine Frau mit einer großartigen Stimme, irgendein russischer Name, Natascha, ein bisschen geheimnisumwoben. Ist mysteriös zu Tode gekommen mit nicht mal dreißig, nee, nicht Natascha, Alexandra hieß die, in Russland geboren, glaube ich, die hat mir aus meiner pubertierenden Seele gesungen. Guck mal, ob du „Was ist das Ziel in diesem Spiel" irgendwo findest, muss doch heute möglich sein, auf YouTube oder sonst wo."

      „Mann, Stojan, jetzt habe ich dich aber angestochen, soviel an einem Stück hast du ja noch nie geredet."

      „Stimmt nicht, du hast mir nur noch nie solange zugehört, Tasso, so herum wird ein Schuh draus!"

      „Jedenfalls bin ich froh, dass du nicht depressiv melancholisch bist, sondern nur ein sentimentaler Kitschheini mit melancholischem Gemüt!"

      Tasso durfte das.

      Jetzt suchte er für ihn etwas Lustiges, Komisches, und tatsächlich, das war schwieriger und dauerte länger. Schließlich hatte er „Goethe ruft an“ von John von Düffel in der Hand. „Das wird ihm wahrscheinlich besser gefallen als Erklärt Pereira oder Tod eines Bienenzüchters, Fido, was meinst du? Oder der Kirchhoff. Obwohl die besser sind! Er wird es noch einsehen, pass auf!“ Noch einen Band mit Kästner-Gedichten packte er dazu, der danebenstand, irgendwie aus missionarischen Erwägungen heraus wollte er ein Gewicht obendrauf packen. Gewicht wie wichtig, ihm wichtig.

      Bevor sie das Haus endlich verließen, schrieb er noch auf das Blatt Papier auf seinem Schreibtisch: Seit wann hatte Irene ihr Tattoo? Und: Hat das Tattoo eine Bedeutung über Schmuck oder Mode hinaus? Er nummerierte die Fragen durch, das waren die siebte und die achte auf seiner Agenda. Noch einmal machte er auf dem Absatz kehrt und kritzelte: 9. Hatte Irene wirklich montags frei? Oder war das gelogen?

      9

      Dienstag, 16.2.16

      Sonja hatte dann doch spontan zugesagt, als er sie auf dem Weg zu Tasso anrief, und sie hatten einen netten Abend mit der Lammkeule verbracht, ein bisschen über sich gefrotzelt und gegen Kollegen gestichelt, die Stojan noch kannte. Und den neuen Dienststellenleiter, den Stojan nicht kannte. Klar, dass auch der Fall Altmann Thema wurde.

      „Sonja, liebe Sonja, ich will dich überhaupt nicht vereinnahmen, aber trotzdem bin ich auf deine Hilfe angewiesen. Es gibt da vielleicht ein dickes Mosaiksteinchen, aber ich komme nicht dran, habe es schon versucht. Wolltest du nicht unbedingt mal nach Kassel? Vielleicht zur documenta? Oder zum Einkaufen? Oder Fußballspiel?“

      „Nu sag schon, was ich da soll. Documenta ist dieses Jahr nicht, Kasselaner Fußball findet bestenfalls in irgendeiner Hessenliga vor hundertfünfzig Zuschauern statt, und seit wann interessieren dich meine Einkäufe? Demnach: Wenn ich für dich etwas da erledigen soll, muss ich da schon extra hinfahren, das geht moralisch voll auf deine Kosten, und ob du das jemals wiedergutmachen kannst, ich weiß nicht, das ist nicht so um die Ecke. Und hör mir auf mit Landschaftserlebnis oder das Auto mal endlich wieder bewegen, Batterie aufladen und so weiter! Versuchs doch einfach so: Sonja, meinetwegen auch liebe Sonja, es ist doch auch dein Fall gewesen, du kannst doch auch nicht gut damit umgehen, dass der Fall nicht geklärt wurde, wahrscheinlich immer noch ein Mörder frei herumläuft, weil wir irgendetwas übersehen haben. Los sag schon, was soll ich in Kassel?“

      Das war vor fast einer Woche gewesen. Und jetzt würde sie ihren freien Freitagvormittag opfern, nicht nur für ihn, sondern für sie beide, für die Gerechtigkeit, für das Gute im Kampf gegen das Böse. Da konnte doch kein Opfer zu groß sein. Waren sich beide einig geworden. Und Stojan wartete ungeduldig.

      War Irene wirklich ein unbeschriebenes Blatt? Viele Leute, die auf dieses Blatt etwas draufschreiben konnten oder wollten, hatten sie nicht gefunden. Oder nicht gesucht? Er nahm sich als nächstes die Aussage des Augenarztes vor, bei dem Irenes gearbeitet hatte. Stojan hatte sie selbst damals noch aufgenommen, konnte sich in Bruchstücken erinnern. Der Arzt war ein paarmal aus dem kleinen Sprechzimmer herausgelaufen, weil eine Mitarbeiterin nach ihm gerufen hatte, ja, er erinnerte sich wieder, eine Patientin wollte nicht einsehen, dass eine angebliche notwendige Untersuchung nicht von ihrer Krankenkasse bezahlt werde, und hatte sich lauthals beschwert.

      Stojans Protokoll war von wem auch immer in Maschinenschrift übertragen worden, aber offenbar nicht mehr von ihm selbst abgezeichnet worden. Am liebsten würde er jetzt noch in den Text eingreifen und Kommasetzung, Abkürzungen und Stil korrigieren, aber das ging ja wohl nicht. Offiziell hatte er die Akte ja nicht einmal in der Hand. Mithin musste er auch darüber hinwegsehen.

      „Im ersten Lj. sei sie richtig lieb und aufmerksam, und lernwillig gewesen, besonders technisch von sehr schneller Auffassungsgabe. Gerne hätte sie Sehtests gemacht, später auch Augendruckmessungen. In der Kommunikation mit Pat. und am Tel, sei sie allerdings bis zuletzt eine einzige Katastrophe gewesen. Das sei aber Organisationssache gewesen, die beiden ausgebildeten Vollzeitkräfte hätten auch Defizite im Leistungsspektrum, wären aber sehr beliebt bei den Pat., und das wäre für das Funktionieren einer Praxis von unschätzbarem Wert. Iota sei etwas schwer von Kapee aber sehr freundlich und gewissenhaft. Yvonne, die eigentliche Erstkraft machte ihm die ganze Verwaltung und Post und schrieb Rechnungen aber im logischen Denken wäre Irene trotz ihrer Jugend 1 Klasse besser gewesen,

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