Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

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Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers

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oder etwas später bemerkt. Sie hätte sich keine besondere Mühe mehr gegeben, sei fahrig und unkonzentriert gewesen und hätte sich häufig au. schreiben lassen, merkwürdigerweise immer von unterschiedlichen Allgemeinärzten auch aus weiter entfernten Orten, auch von Gynäkologen und Orthopäden. Mit den Kolleginnen, die sie anfangs noch ziemlich gefördert hatten, gab es jetzt öfters Streit um liegengebliebene Arbeiten, unsaubere Geräte, überhaupt sei der Ton unter seinen Mitarbeiterinnen ruppiger geworden. Zu dem Zeitpunkt sei ihm klar geworden, dass weder bei ihr noch bei ihm selbst Interesse an einer Anstellung nach der Ausbildung bestehen konnte.“

      Die Atmosphäre in der Praxis hatte Stojan angespannt gefunden, er entsann sich. Kein großes Wunder, wenn jemand eine Woche vorher plötzlich und gewaltsam aus dem Team gerissen worden war. Alles war ungeordnet, Stojan war froh gewesen, als er wieder draußen war, auch weil er nicht mehr sitzen konnte, die Schmerzen im Bein waren kaum noch erträglich gewesen.

      „Telefonische Nachfrage Augenarzt Dr. Markus Weniger, 6.6.13“ stand darunter, dann Sonjas Kürzel.

      „Klärung zum Madeira-Urlaub:

      Irene habe um Urlaub gebeten, weil sie eine Reise gewonnen habe, er habe nicht nachgefragt, sie habe sehr freundlich gefragt, zuletzt einen besseren Eindruck hinterlassen, auch wieder natürliche Haarfarben getragen, sei nicht mehr so flippig gewesen wie noch zuvor. Der Urlaub habe ihr auch zugestanden, die Kolleginnen hätten sich immer abgesprochen, so dass der Praxisbetrieb nicht gelitten habe. Und in der letzten Woche vor Weihnachten hätte immer die ganze Praxis Urlaub, das sei traditionell so, im letzten Jahr sei das ab dem 17.Dezember gewesen.

      Wann habe sie gefragt, ob sie Urlaub bekommen könne?

      Das sei ziemlich spontan gewesen, bei der Weihnachtsfeier der Praxis, Moment, das konnte er im elektronischen Terminkalender nachschauen, sie gingen dann immer irgendwohin essen, kleine Geschenke gab's auch, Gutscheine fürs Kino oder Eisdiele oder ähnliches. Früher wäre auch seine Frau und die jeweiligen Partner seiner Helferinnen mit dabei gewesen, Aber das wäre seiner Frau dann zu familiär geworden. Also das war der 23. November, bei dem neuen Italiener seien sie gewesen, der sei übrigens auch nicht besser als Pepe, da sei es höchstens heller, ungemütlicher und teurer. Da hätte sie das erste Mal gefragt, nach dem Wochenende hätte er ihr dann zugesagt. Zehn Tage später hätte sie ja schon losgewollt.“

      Sonja schien das als Gedächtnisprotokoll angefügt zu haben, so hatte sie das früher auch immer gemacht, indirekte Rede, viel Konjunktiv, sachlich, aber nicht streng dokumentarisch. Stojan mochte das, er konnte das so lesen, wie es gemeint war, auch wenn es nicht so exakt war wie das Formblatt.

      Jetzt überlegte er, ob es sich lohnen könnte, dem Augenarzt nochmal einen Besuch abzustatten. Hatte man die Arbeitskolleginnen befragt? Alle? In der Akte stand nur, sie hätten ausgesagt, mit Irene keinen privaten Kontakt gehabt zu haben. Im ersten Ausbildungsjahr hätten sie manchmal noch die Mittagspause zusammen verbracht, einen Salat beim Türken gegessen oder einen Cappuccino in der Eisdiele getrunken, da hätte sie auch mal etwas von zuhause erzählt, nichts Aufregendes oder Spektakuläres. Offenbar hatte das gegenseitige Interesse aneinander dann rasch nachgelassen und für die Ermittlungsakte war eben auch nichts weiter herausgesprungen. Die Ärzte, die Irene dann später krankgeschrieben hatten, waren anscheinend nicht befragt worden. Wahrscheinlich hatte man befürchtet, dass sie sich hinter ihrer Schweigepflicht verschanzen würden, besonders wenn man an ihren Attesten Zweifel hegte oder der Vorwurf leichtfertigen Handelns unausgesprochen im Raum stand. An einer ernsthaften Erkrankung hatte Irene sicher nicht gelitten, da hätte die Obduktion etwas ergeben. Er hatte immer noch einen Finger an der Stelle. Da stand aber nichts. Irene war völlig gesund gewesen. „Abgesehen davon, dass sie tot war“, fiel Stojan dazu ein. Was auch immer im kurzen Leben der Irene, geborener Irina Altmann, die Ärzte diagnostiziert haben mochten, musste folgenlos verheilt sein. Was auch immer die junge Frau den Ärzten vorgespielt haben mochte, um an einen gelben Schein zu kommen, dürfte zur Lösung des Falles nicht so entscheidend beitragen, dass Stojan große Lust verspürte, als ungebetener lästiger Gast in Wartezimmern stundenlang abgegriffene Sport- oder Autoillustrierte durchzublättern. Da hoffte er schon eher, der Pfarrerin oder Ex-Pfarrerin etwas Gewichtigeres zu entlocken.

      Ohne offizielle, das heißt durch Staatsanwaltschaft veranlasste oder zumindest gedeckte Ermittlungen stand ihm kein Apparat zur Verfügung, blieb alles Hobby, möglicherweise teures Hobby. Es sei denn, er fand Mitstreiter, jemanden, dem es um Gerechtigkeit, Sühne oder Strafe ging oder auch nur um Wahrheit, und der sich auch nicht vor Kosten scheute. Irgendwo musste er seine Rente und seine laufenden Verpflichtungen im Blick behalten. Privatdetektive, Reisen mal eben einfach so, aufwändige Technik, das ging nicht ohne weiteres. Er konnte lange Zeit ohne viel Geld auskommen, manchmal gönnte er sich aber auch gern etwas. Für die Enkel legte er immer mal wieder etwas zurück, einige sozial aktive Institutionen durften mit seinen regelmäßigen Spenden rechnen, und wenn irgendwo Katastrophen Not und Elend hinterließen, konnte er ohne einen Griff ins eigene Portemonnaie nicht gut schlafen. Aktenzeichen XY würde auch nicht auf seinen Wunsch und einen bloß vage gefühlten Verdacht hin Sendezeit opfern, um bundesweit nach Tattoos zu fahnden. Er brauchte schon ein bisschen mehr, aber wie kam er an Antworten auf seine Fragen?

      So viele Sackgassen! Von Ralf stand nach seinem Geschmack eindeutig zu wenig in den Protokollen. Wenn der nicht völlig unterbelichtet oder dauerverliebt oder komplett unter Irenes Pantoffel gestanden hatte, muss der doch mehr wissen, als die dürftige Notiz hergab:

      „Ralf Lichtmann, geboren 1992, Auszubildender in einer Autolackiererei in Schmallenberg, der bei den Arbeitskolleginnen und beim letzten Klassentreffen Irenes ein halbes Jahr vor ihrem Tod von ihr als ihr Freund geführt wurde, hatte wohl keine Trauerzeiten eingehalten und für rasche Ablenkung gesorgt. Schon bei der ersten Vernehmung hatte er die emotionale Distanz zum Opfer betont und mehr eine beliebige und belanglose Gelegenheitsbeziehung unter gleichaltrigen jungen Menschen zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung einschließlich Probierens und bei Gefallen Austobens sexueller Spielchen gezeichnet. Kennengelernt hätten sie sich bei den Abendveranstaltungen der Pfarrerin, höchstens vier Monate engere Freundschaft wollte Ralf gelten lassen, davon seien die letzten vier Wochen schon nicht mehr so eng gewesen, nach Madeira hätten beide eigentlich keine große Lust mehr aufeinander verspürt.“

      Das war´s. Wenig. Nicht einmal, ob Irene in der Nacht vor ihrem Tod bei ihm gewesen war. Zu dem erwähnten Klassentreffen fand Stojan auch nichts. Dabei gab es doch offenbar Aussagen: von Irene über Ralf, von Klassenkameraden über Irene, über Irene und Ralf. Hatte Ralf etwas über die Klassenkameraden gesagt? Hatte noch jemand etwas von der Mutter erfahren, was nirgendwo vermerkt wurde, weil es niemand wichtig genug fand? Es musste jemand ausgesagt haben, dass Irene auf einem Klassentreffen war, vielleicht ein halbes Jahr vor ihrem Tod. Sie musste dort erzählt haben, dass sie einen Freund hatte. Vielleicht hatte sie den Klassenkameraden noch mehr erzählt? Was sie sonst so trieb? Nebenberuflich? Was sie gerne machte? Wofür sie sich interessierte? Etwas, was sie nicht wussten, sie aber weiterbringen konnte. Nicht unbedingt musste. Aber das konnte man doch erst wissen, wenn man es versucht hatte, oder, Kollegen Schlafmützen?

      Ärger kam hoch. „Kann man sich denn nicht mal in Ruhe an der Bandscheibe operieren lassen, Herr Gott sakra!“

      Er müsste mal wieder vor die Tür. Nicht nur vor die seiner Datscha. Aus größerer Distanz wurde sein Blick manchmal schärfer. Nordsee vielleicht, die Idee behagte ihm.

      Aber erst die Pfarrerin. Das Büro war in Meschede, hatte Sonja gesagt. Zeit hatte er ja. Also.

      Auf den ersten Blick gefiel sie ihm, ihr offenes Gesicht mit den Lachfalten vom Mund bis zu den großen Augen mit dem frechen, etwas spöttischem Blick, dem asymmetrischen Pagenschnitt, den sie ihrer Frisur in zur Strumpffarbe passendem Auberginerot verpasst hatte. Auch das, was zwischen Kopf und Schienbein seine Aufmerksamkeit ungewöhnlich lange in Anspruch nahm, gefiel ihm sehr: wie der breite Kragen einer cremefarbenen Bluse aus dem V-Ausschnitt des olivgrünen

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