Stojan findet keine Ruhe. Norbert Möllers

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Stojan findet keine Ruhe - Norbert Möllers

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Dienstag, den 19.2.2013 musste sie irgendwo zwischen Leipzig und Hamm in den Zug Richtung Dortmund eingestiegen sein, irgendwann zwischen sechs Uhr und zehn Uhr siebenunddreißig. Aber wo und wann Irene tatsächlich den Zug bestiegen hatte, war nicht ermittelt worden. Kein Mensch in ihrer Umgebung schien auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie in dem Zug wollte. Laut Fahrplan sollte der Zug acht Minuten vor elf Uhr in Hamm halten, wenige Minuten vorher hatte sich ein Rollstuhlfahrer darüber beschwert, dass die Tür zur Behindertentoilette versperrt sei, ohne dass das Besetztzeichen leuchtete. Einem Zugbegleiter, der gerade zugestiegen war, gelang es, die breite Tür zur Behindertentoilette aufzudrücken. Zunächst sah es so aus, als sei die junge Frau ohnmächtig zusammengebrochen und habe mit ihrem Körper die nach innen zu öffnende und nicht verschlossene Tür blockiert. Sofort wurde nach einem Arzt über den Lautsprecher im Zug und an den Bahnsteigen ausgerufen, gleichzeitig der Notruf betätigt. Der Zugbegleiter und ein junger Mann leisteten erste Hilfe, offenbar fachkundig und ohne Hektik, wie man später vernehmen konnte. Bereits sechs Minuten nach dem abgesetzten Notruf war der Notarzt im Zug und begann mit der Reanimation, die dann während des Transports auf einer Liege und schließlich im Rettungswagen fortgesetzt wurde, letztendlich ohne Erfolg. Das Bewusstsein hatte Irene nicht mehr wiedererlangt. Eine Fahrscheinkontrolle sei zwischen Erfurt und Gotha und eine weitere zwischen Kassel und Altenbeken erfolgt, die Sitzplätze der elf Waggons mit sechs Abteilwagen und fünf Großraumwagen seien zu diesem Zeitpunkt, wie der Zugbegleiter sich zu erinnern glaubte, ungefähr zur Hälfte besetzt gewesen. Das sei an einem normalen Werktag zu dieser Tageszeit meistens ähnlich. Ebenfalls glaubte er sich vage zu erinnern, dass die junge Frau in einem der hinteren Großraumwagen gesessen und ihm wortlos ein am Automaten gelöstes und ordnungsgemäß entwertetes Ticket hingehalten habe, ohne länger als unbedingt notwendig von ihrem Handy aufzusehen. Das sei definitiv bei der zweiten Kontrolle, folglich hinter Kassel, wahrscheinlich sogar hinter Warburg gewesen. Nein, die Toiletten würden normalerweise nicht kontrolliert, es sei denn, ein ungewöhnlich langes Rot ließe den Verdacht auf einen versteckten Schwarzfahrer aufkommen oder sonst jemanden, der zu Ordnung, Anstand oder Sitte gerufen werden müsse. Stojan stutzte, las den Satz noch einmal. War das etwa wörtliches Zitat eines Ermittlungsbeamten? In der Zweitberufung Spaßvogel? Oder hatten sich ein paar Zyniker ins Team geschlichen, die es sich nicht nehmen ließen, allzu trockene Berichte mit ihrer eigenen Note zu würzen? So etwas hatte ihm nie gefallen und er war fast erleichtert, dass er das Unterschriftenkürzel zu dieser Seite nicht zuordnen konnte. Jedenfalls war es keiner von seinen Leuten, die sich in den ersten Tagen nach Entdeckung der Leiche auf das direkte Umfeld der Toten konzentriert hatten.

      Da auf dem Totenschein „unnatürliche Todesart“ angekreuzt worden war, landete Irene Altmann schließlich nachmittags auf dem Seziertisch des Instituts für Rechtsmedizin Dortmund. Als Todesursache wurde Ersticken durch Würgen mit Bruch von Zungenbein und Kehlkopf festgestellt. Der Angriff musste von hinten erfolgt sein, und zwar wahrscheinlich von einem Rechtshänder. Ebenfalls auffällig war ein erhöhter Insulinwert im Blut, der weitere und genauere Untersuchungen veranlasste. Man fand eine Einstichstelle im Bereich der linken Halsschlagader vermutlich durch eine Injektionsnadel, deren Kaliber deutlich größer war als üblich bei einer therapeutischen Insulinverabreichung. Eine Unterzuckerung war noch nicht eingetreten. Ob die Insulinkonzentration im Blut zum Tode hätte führen können, ließ sich nicht sicher nachweisen, wohl dass die Injektion noch zu Lebzeiten erfolgt sein musste, bei noch wenigstens für ein paar Sekunden funktionierendem Kreislauf. Ansonsten waren keine weiteren Auffälligkeiten zu Protokoll genommen worden.

      Die Identifizierung war rasch gelungen, in ihrer linken hinteren Jeanstasche hatte sie eine EC-Karte ihrer Bank. Wie sich später im Laufe der Ermittlungen ergeben sollte, hätte sie zum Zeitpunkt ihres Todes über 720 Euro verfügen können.

      Sobald sich absehen ließ, dass es sich um ein Tötungsdelikt handelte, war eine Sonderkommission gebildet worden mit Teams aus der Kreispolizeibehörde des Hochsauerlandkreises und weiteren Teams aus der für den Fundort der Leiche zuständigen Polizeibehörde Hamm. Zeitweise bestand die Soko Irene aus 45 Mitarbeitern. Stojan hatte die Ermittlungen nur wenige Tage und mit einer gewaltigen Dosis an Schmerzmitteln leiten können, bis er notfallmäßig in der neurochirurgischen Klinik in Dortmund an einem Bandscheibenvorfall im unteren Lendenwirbelsäulenbereich operiert wurde. Dass er auch heute noch seine rechte Großzehe nicht mehr richtig anheben konnte, schoben die Ärzte auf die zulange hinausgezögerte Behandlung. „Seien Sie froh, dass Sie das Bein überhaupt noch bewegen können, Sie indolenter Dickschädel!", musste er sich danach noch mehrmals anhören. Immerhin ließ er sich dann doch auf eine stationäre Reha ein, sodass er insgesamt fast fünf Wochen ausfiel. Für Sonja, die ihn vertrat, war es die erste Mordermittlung in leitender Funktion, die unter diesen Umständen offiziell zuständige Leitung der Soko blieb beim Ersten Kommissariat Hamm. Auf Stojans Drängen hin wurde er während seiner Reha zwar gelegentlich häppchenweise mit E-Mails und SMS gefüttert, aber richtig beteiligt wurde er an den Ermittlungen nicht.

      Als er schließlich wieder mitmachen konnte, war die Soko auf sein eigenes Team von fünf Leuten geschrumpft, der Fall Irene Altmann aus der Presse und damit dem öffentlichen Interesse verschwunden. Zugleich hatten sich andere Akten Platz auf den Schreibtischen gesucht und genommen, und wenn die Kollegen des Gewaltdezernats morgens die dringlich zu bearbeitenden Dateien auf ihren PCs aufriefen, mussten sie ziemlich lange hinunterscrollen, bis sie auf die Tote aus dem Zug stießen. Die lokalen und natürlich auch die für Sensationen allgemein und für sex and crime besonders zuständigen überregionalen Zeitungen hatten ihre Leserschaft zunächst täglich seitenlang mit Texten voller Ausrufe- und Fragezeichen bombardiert. Dazu kamen überraschend schlechte Fotos vom Opfer zu Lebzeiten, bessere vom Tatort, noch bessere vom Polizeisprecher.

      Vielleicht hätte es mehr Hinweise aus der Bevölkerung gegeben, wenn dies umgekehrt gewesen wäre. Nun, die Texte wurden kleiner und schmuckloser und immer seltener, die Fotos wurden nicht besser, der Polizeisprecher tauchte als letzter nach drei Wochen noch einmal auf und bedankte sich für die Vielzahl der Hinweise und versprach, dass weiter mit Hochdruck in alle Richtungen ermittelt werde. Es gebe vielversprechende Spuren und man sei optimistisch, zeitnah eine Verhaftung durchführen zu können.

      Auf den Tag elf Monate nach dem Tod der einzigen Tochter starben die Eltern Ernst und Agnes Altmann bei einem Verkehrsunfall. Sie waren mit ihrem fünfzehn Jahre alten Renault Clio gegen einen Autobahnbrückenpfeiler geprallt, Bremsspuren fand man nicht, Gurtspuren auch nicht, statt eines Abschiedsbriefs eine leere Flasche Wodka zwischen den Autotrümmern. Alkohol hatten die Eheleute laut einiger Aussagen in ihrem Umfeld - viele hatte man da nicht mehr befragt, warum auch? - selten und sehr gemäßigt getrunken. Es sah alles so aus, als hätten sie den Jahrestag des Mordes an ihrer Tochter nicht mehr abwarten können. Der Vater war schon lange nicht mehr im Schützenverein erschienen, hatte nicht mehr an der Tippgemeinschaft teilgenommen, die Mutter wegen Erkrankung kaum noch Pflegevertretungen angenommen. Bei Pepe hatten sie noch ein paar Mal ohne große Lust und Freude etwas bestellt und dann kaum angerührt. In der Hosentasche von Ernst Altmann fand man später die Quittung einer Gärtnerei über für drei Jahre im Voraus bezahlte Grabpflege für Irene Altmann, Familiengrab Nummer 702. Achthundert Euro hatte er dafür bezahlt.

      Stojan erinnerte sich gut an die Artikel im Westfalenkurier, den er sich nach Bad Sassendorf hatte nachschicken lassen, und die ihn jetzt noch einmal, im Ordner chronologisch sortiert, ärgerten. Dass die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen unbekannt schloss, zwölf Monate und acht Tage nach dem Mord an Irene Altmann und einen Monat und acht Tage nach dem Unfalltod oder Selbstmord ihrer Eltern, fand nicht den Weg in die Nachrichten, Lokales oder Vermischtes aus aller Welt. Der Polizeisprecher hatte sich längst mit demselben Foto, aber in anderer Sache etabliert: Er bedankte sich bei der Bevölkerung für die zahlreich eingegangenen Hinweise auf den Feuerteufel, der für insgesamt sechzehn Scheunenbrände im Großraum Dortmund verantwortlich gemacht wurde, und aufgrund derer man mit einer baldigen Verhaftung des Täters rechnen könne. Auch daran erinnerte sich Stojan gut. Tatsächlich war der Feuerteufel drei Wochen später gefasst worden.

      Er verbot sich weitere Abschweifungen. Wenn er irgendwo doch noch irgendetwas finden wollte,

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