Theaterherz. Stefan Benz
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Beck hatte nie jemandem etwas davon erzählt. Er galt ohnehin schon als schrullig. Paula kannte fast alle seine Zipperlein und Macken, da musste er ihr nicht noch mit dem guten Geist seiner vor über zwölf Jahren gestorbenen Frau kommen. Doch jetzt sollte sich etwas ändern. Das hatte Beck beschlossen, als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Der Infarkt war ein Zeichen gewesen. Es ging so nicht weiter, dass er allein mit seinen Erinnerungen lebte. Also hatte er Franz gebeten, Julianes Zimmer auszuräumen. Vor all ihren Schulbüchern stapelten sich Weinkisten, die er in seinem Kontor im Erdgeschoss nicht lagern konnte. Der Laden ging schlecht, sein Franchise-Vertrag, der ihm einmal gnadenhalber verlängert worden war, lief aus. Für die Kette i.vive war der Verkaufsraum ohnehin viel zu klein, im Grunde betrieb er vor allem eine Abholstation für Pakete, die im Internet bestellt worden waren und nicht direkt zugestellt werden konnten. Das passte längst nicht mehr ins Kontorkonzept, und es funktionierte auch nicht mehr, seit auch noch die Discounter Vinotheken sein wollten. I.vive stand für „In vino veritas“, und die Wahrheit des Weines war: Es ging nicht mehr. Schluss mit dem Laden, Schluss auch mit dem Andachtsraum für seine Frau. Beck hielt den Kopf gesenkt, er hörte aus dem Nebenraum, wie Franz mit dem Akkuschrauber hantierte, in der Küche bollerte die Kaffeemaschine, und als er wieder aufblickte, war die Erscheinung im weißen Kleid mit den roten Punkten verschwunden.
Beck zog die Decke von den Füßen und schob mühsam den Oberkörper empor. Mal schauen, wie weit Franz war. Guter Junge. Er hatte ihn vor einigen Jahren als Praktikant der „Neuen Post“ kennen gelernt, und der Kontakt war auch nicht abgerissen, als Franz ein Biologiestudium begonnen hatte. Schon mehrfach hatte er den Weinladen auf Vordermann gebracht, wenn Beck Buch- und Lagerhaltung entglitten, was immer häufiger der Fall war. Deshalb hatte er schon immer gesagt, Franz würde einen guten Logistiker abgeben. Und da dieser gerade sein Studium geschmissen hatte, weil ihm die Freundin weggelaufen war – oder war es umgekehrt? – hegte Beck nun die Hoffnung, Franz könne seinen Laden bis zur Geschäftsaufgabe führen. Er hatte sich schon so seine Gedanken für die Zukunft gemacht, aber gesagt hatte Beck es noch niemandem. Denn seit seinem Infarkt waren alle um ihn herum sehr aufgeregt und kamen ihm ständig mit guten Ratschlägen für seine Gesundheit. Leider hatten all die freundlichen Hinweise nichts mit dem zu tun, was er selbst sich vorgenommen hatte. Beck sah Ärger auf sich zukommen.
Bevor er den Gedanken vertiefen konnte, tat es einen heftigen Knall, der von einem leiseren Rumpeln, einem erschreckten Schrei und einer Serie von Flüchen begleitet wurde. Aus Julianes Arbeitszimmer quoll eine graue Staubwolke, aus der Küche kam Paula mit Schürze und Kochlöffel in der Hand ins Wohnzimmer und rief: „Um Himmelswillen, was ist los?“
„Alles gut, alles gut“, stöhnte Franz von nebenan, und es polterte dazu. Was hatte der Junge bloß angestellt? Beck stand schwerfällig auf, stopfte das an ihm herumflatternde Hemd in die ausgebeulte Hose, schleppte sich zum Arbeitszimmer und schaute Paula über die Schulter. Links, wo Franz die Bibliothek schon abgebaut hatte, stapelten sich Bücher und Bretter säuberlich an der Wand. Rechts lagen sie kreuz und quer – und mittendrin hockte sein junger Helfer. Eigentlich sah man nur seine halblangen blonden Haare, von denen eine Strähne mit einem gelben Gummi zusammengehalten war und auf dem Hinterkopf aufragte wie ein Blümchen mit hängendem Kopf. Paula griff planlos zu Büchern, die bis vor ihre Füße gerutscht waren: „Was ist denn passiert? Hast Du Dir wehgetan?“
Franz kniff die Augen zusammen, sah Paula an, befühlte seine Stirn, auf der sich eine Schramme rötlich abzeichnete.
„Blutest Du?“ Paula lief ins Badezimmer, kramte im Wandschrank und holte Verbandszeug.
„Nix passiert“, rief Franz ihr nach und griff dann zu einem von mehreren weinroten Lederbänden. „Die sind auf einmal runtergekommen.“
„Encyclopaedia Britannica“, murmelte Beck, der immer noch im Türrahmen stand. Er hatte die zwei Dutzend Bände mal einem Antiquar angeboten, aber der hatte abgewinkt, und sie wegzuschmeißen, das hatte Beck nicht hingekriegt. „Hat Juliane gehört.“ Es klang nachdenklich. „Hab ich noch nie reingeschaut, wenn ich ehrlich bin.“
„Wie auch, die waren ja quasi unter die Zimmerdecke geklemmt. Hätte ich mir auch denken können, dass es kippen kann. Und dann hat mich der hier erwischt.“ Franz hielt einen grünen Band, groß und schwer wie ein Mauerstein, in der Hand.
„Oh, Stanley Kubricks Napoleon-Projekt. Hab ich mal rezensiert. Kannst Du gerne haben.“
„Den Film kenn ich nicht.“
„Ist auch nie gedreht worden.“
„Aha“, erwiderte Franz, wollte grinsen, was sich aber nicht mit Stanley Kubricks Beule an seinem Kopf zu vertragen schien. „Schwerer Stoff.“
Bevor Beck dem Jungen weitere Bücher schmackhaft machen konnte, ging Paula mit Alkohol, Pflaster und Tupfer dazwischen.
„So, Schluss jetzt. Komm mal her, Franz, ich versorg das jetzt.“ Sie kniete sich vor ihn hin, während sich Beck hinter ihrem Rücken zu einer Rechtfertigung genötigt sah: „Das ist alles nur die Schuld von dem grünen Napoleon.“
„Was redest Du“, fauchte Paula.
„Schon gut“, sagte Franz, der als Scheidungskind beim Vater aufgewachsen war und das Bemuttertwerden nicht gut abkonnte. „Meine Schuld. Ich hab ein paar Weinkisten vor dem Regal weggeschoben, und dann ist es eingestürzt. Dachte, es wäre oben in der Wand verankert wie auf der anderen Seite, war es aber nicht.“
Tja, das hätte er dem Jungen sagen können. Die Weinkisten standen ja am Fuße des Regals, um die auf dieser Seite höchst wacklige Konstruktion zu stabilisieren. Weil er sich nicht mehr bücken wollte, hatte Beck die unteren Bretter freigeräumt und alles, was er von Julianes Nachschlagewerken noch brauchen konnte, ab Brusthöhe einsortiert. Wenn schon der Wein bei ihm in der Wohnung rumstand, weil im Laden kein Platz war, dann sollte er doch für irgendwas gut sein. Und die „Encyclopaedia Britannica“ hatte er schon vor Jahren ‒ mit damals noch mehr Kraft in den Armen ‒ als festgeklemmten Abschlussstein ganz oben in seine Bücherwand gestemmt. Er hatte das bislang für eine sehr gute Idee gehalten. War aber vielleicht doch nicht so geschickt gewesen, dachte sich Beck nun mit schlechtem Gewissen.
Aber heute war nicht der Tag für Schuldeingeständnisse, heute wollte er sich keine Blöße geben, damit ihm nachher keiner in die Parade fahren konnte, wenn er seinen Plan vorstellte. Also versuchte er es mit einem verständnisvollen Vorwurf: „Ach, Paula, der Junge kann ja noch nicht alles wissen. Aber Franz, Du musst auch aufpassen, dass Du nicht alles kaputtmachst, wenn Du so kräftig anpackst.“
Paula schaute ihn schief an: „Sei froh, dass er Dir hilft und ihm nichts passiert ist.“
Die Türklingel verhinderte, dass Beck sich auf der Suche nach Ausflüchten noch verplappern konnte. Das mussten Bernd und Gitta sein. Der Polizeipräsident und seine Frau, beide Theater-Abonnenten und treue Kunden seines Weinladens, hatten sich zum Kaffee angekündigt. Er witterte eine Verschwörung. Seine Freunde wollten ihn in die Mangel nehmen, aber er war vorbereitet.
„Ich mach auf“, sagte Beck und schlappte zur Wohnungstür, während Paula hinter ihm Franz aufhalf. Im Treppenhaus hörte er schon die Rudolfs, und als Gitta das letzte Stück Treppe emporkam, winkte sie bereits mit einem Gemüsekorb: „Hallo Justus, wie geht’s? Schau mal, was wir mitgebracht haben.“ Sah aus wie Balkonpflanzen, dachte Beck. Gitta