Theaterherz. Stefan Benz
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„Lass uns doch erst Mal ankommen“, rief Bernd und zog mit seinen zwei Metern gewohnheitsmäßig den Kopf ein, als er über die Schwelle trat. Doch noch im Flur fing auch er an: „Hier, schau mal, drei Wanderführer. Lauter Touren, die Du mit Bus und Bahn erreichen kannst. Gitta meinte, Du sollst unbedingt Deine Ausdauer stärken.“
„Ja! Oder Du fährst mal für ein paar Tage mit dem Zug weg. Natur-Genuss-Route durch die Lüneburger Heide.“ Gitta blätterte in einem der Bändchen. „Oder hier: Bodensee.“ Schon griff sie zum nächsten: „Hier, auch schön: Fischland und Darß.“
Bei so viel Enthusiasmus wollte Bernd sich nicht lumpen lassen: „Man kann auch Paddeln und Radfahren kombinieren. Haben wir auch schon mal im Werratal gemacht.“
„Schön, danke“, seufzte Beck. Das hatte er befürchtet. „Kommt doch erst mal rein. Franz hat gerade das Arbeitszimmer in Schutt und Asche gelegt.“
Die Begrüßung der Anderen verlief herzlich. Gitta und Paula tauschten vegetarische Rezepte aus, Bernd und Franz fachsimpelten über Bohrmaschinen, Akkuscharuber, Dübelsysteme und alte Kriegsverletzungen im Hobbykeller. Bald schon war die Tafel für Fünf gedeckt und Paulas Obstkuchen ohne Sahne mit Früchtetee aufgetischt. Es gab auch Blümchenkaffee ohne Koffein. Bloß nichts, was den Blutdruck steigen ließ. Beck hatte sich sein drittbestes graues Jackett angezogen, das Paula schon hatte aussortieren wollen. Dazu legte er sich eine blaue Fliege um den Hals. Das tat er sonst nie, und er fing sich auch prompt einen belustigten Blick von Paula ein. Schnell erhob sich ein Gespräch über gesunde Ernährung, frische Luft und die schädliche Wirkung des Alkohols.
Beck erkannte, was da auf ihn zukam. Seit er aus der Klinik zurück war, hatte Paula heimlich dafür gesorgt, dass keine Weinflaschen mehr in Becks Griffweite waren. Aber das hatte er durchschaut und ein Depot angelegt: vier Flaschen blauer Portugieser aus Rheinhessen unter seinen langen Unterhosen. Da würde Paula nicht rumkramen, jetzt, wo der Sommer vor der Tür stand. Und zur Sicherheit noch je zwei Literflaschen Dornfelder und Lemberger im Kleiderschrank unten, hinter den Stiefeln. Alles nur für den Ernstfall. Ein bisschen weniger musste er ja trinken, aber wegnehmen lassen wollte er sich auch nichts. Und dann ging’s los: Gitta fing an, über Kurkliniken zu referieren und einen Kollegen von Bernd, der dort nach einer Bandscheiben-OP doch wieder so schön auf die Füße gekommen war. Beck wusste, es war höchste Zeit, dazwischen zugehen, sonst würden sie ihn fürsorglich überrollen. Er räusperte sich, hob seine Tasse und klopfte mit dem Löffel dagegen.
„Ihr Lieben, schön dass Ihr da seid. Ich weiß, Ihr macht Euch ganz viele Sorgen um meine Gesundheit. Und Paula, Du hast im Theater einen großen Schreck gekriegt. Aber keine Angst, Mir geht es schon wieder sehr gut, und ich bin auch fest entschlossen, einige Sachen in meinem Leben zu ändern.“
„So ist’s recht“, sagte Gitta, fast gleichzeitig entfuhr Paula: „Gottseidank!“ Und Bernd klatschte in die Hände: „Lass mich raten: Klinikum Dahlienhof! Das sind die Besten, da war auch mein Vorgänger nach seinem zweiten Infarkt.“
„Das war doch nach seinem Schlaganfall“, fuhr Gitta dazwischen.
„Nein, davor! Ist aber auch egal.“
Der multimorbide Polizeipräsident a.D. kam Beck jedoch sehr gelegen: „Sehe schon, im Dahlienhof wird man erst so richtig krank. Deshalb ist die gute Nachricht: Da gehe ich nicht hin.“ Kunstpause. Erwartungsfrohe Verwunderung blickte ihm schweigend entgegen. „Ich gehe ins Kurhotel Nehoda Imperial.“ Die Verwunderung verwandelte sich in stilles Staunen, bis Gitta als Erste die Sprache wiederfand. „In Weinfurt? Aber das ist keine Klinik.“
„Nein, aber vier Sterne Superior mit Wellnessbereich und zu Fuß durch den Park gar nicht weit zu den Festspielen.“
Ausgerechnet Franz, der die ganze Zeit nur Obstkuchen gemampft hatte, blickte am schnellsten durch: „Du fährst nach Bad Weinfurt, um Theater zu gucken?“
„Richtig. Es gibt nichts, was mir besser täte. Und außerdem lass ich mich dann im Hotel von Kopf bis Fuß verwöhnen.“
„Aber Du hast doch gehört, was Doktor Reinheimer gesagt hat.“ Paula war konsterniert, und wenn Beck es richtig sah, bildete sich gerade eine winzige Wasserlache am unteren Lid ihres linken Auges.
„Hör mir auf mit diesem Reinheimer“, erwiderte Beck patziger, als er vorgehabt hatte. „Ich sag Dir: Doktor Hofmannsthal und Professor Zuckmayer behandeln mich an der frischen Luft. Das ist für mich die beste Medizin.“ Und dann erklärte er seinen Freunden, dass das Hotel in der Kurstadt bereits gebucht sei. Mit seiner Redaktion hatte er abgesprochen, dass er über die vier Premieren der Festspiele berichten werde. Die hatten im Kulturteil zwar bislang nie interessiert, weil in Weinfurt über 24 Jahre hinweg ein Theaterverein mit engagierten Laien-Aufführungen zwar respektable, jedoch kaum erwähnenswerte Arbeit geleistet hatte. Nun aber war zum Jubiläum ein neues Team am Start. Ein auch nicht mehr ganz junger Regisseur, dem das Prädikat angehängt worden war, allzeit radikal wild zu sein, hatte die Intendanz übernommen. Neue Sponsoren hatten dafür gesorgt, dass etliche Schauspieler aus dem Nachmittagsfernsehen auf der Kurstadtbühne ihre künstlerische Sommerfrische genießen konnten. Bei aller wilden Radikalität sollte es doch vor allem ein Publicity-Spektakel mit vielen Galas werden. Und weil Beck nun schon mal dort kuren wollte und ‒ was Spesen und Honorare betraf ‒ strenge Diät hielt, hatte die Chefredaktion grünes Licht für seinen Einsatz gegeben.
Für das wenige Geld, das sie ihm überweisen wollten, würde er in der Zeit vielleicht dreimal gut essen gehen können. Aber das war ihm egal, und dem Chefredakteur war es auch deshalb recht, weil die „Neue Post“ in der Kurstadt sonst nicht viel zu melden hatte. Dort saß nur ein strafversetzter Ressortleiter, dem die Redaktion weggespart worden war und der seine Artikel meist bei der größeren Kurstadtzeitung abschrieb. Da konnte ein wenig zugereiste Kulturkompetenz nicht schaden.
Beck war von seinem eigenen Vortrag über feuilletonistische Perspektiven der Provinzpublizistik selbst ganz hingerissen, dabei hörte vor allem Paula gar nicht richtig zu. Gitta schüttelte den Kopf und Bernd nuschelte „Ich weiß ja nicht“ in sich hinein. Nur Franz, der sich bereits dem vierten Stück Obstkuchen zugewendet hatte, schien zufrieden, vor allem, als Beck ankündigte, ihn als kommissarischen Geschäftsführer im Weinkontor einsetzen zu wollen. „Cool, geht klar“, krümelte es aus ihm heraus, die Gabel noch im Mund. Zwischen Massage, Fango und Premieren wollte Beck auch die Winzer der Kurstadt besuchen und schauen, ob er nach dem Auslaufen der i.vive-Lizenz seinen Laden nicht als Direktvermarkter regionaler Tropfen weiterführen könnte. Vor allem Hermann Castus, den größten Winzer am Ort, der zugleich die Festspiele unterstützte, hatte er dabei im Auge
Noch einmal raffte sich Paula zu einem Einspruch auf: „Aber, Dein Herz…“ Weiter kam sie nicht.
„Ja, Paula, genau an den Sachen hängt mein Herz, deshalb mache ich meine Theaterkur mit Weinproben.“
Auch Gitta versuchte es noch mal: „Du sollst aber doch keinen Wein…“
„Ich muss ihn nur schmecken, nicht trinken. Wenn das Eure größte Sorge ist: Ich spuck alles aus, versprochen!“ Sie schienen es glauben zu wollen, dabei musste Beck schon innere Widerstände überwinden, wenn er korkenden Wein wegkippte. Aber das fiel jetzt gerade keinem ein, weshalb die Sache buchstäblich gegessen war, als Franz auch das letzte Stück Obstkuchen auf seinen Teller schob.
Paula und ihre Mitstreiter hatten resigniert. Gitta versprach noch, Wander- und Radführer für die Weinberge rund um Weinfurt zu besorgen, Paula räumte still ab, Franz kaute zufrieden, und Bernd war drauf und dran, sich in der Festspielzeit zu einer Weinprobe mit Beck zu verabreden. Aber nur, wenn