Götter und Göttinnen. Manfred Ehmer
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Der Begriff des Daimon hat in der griechischen Religionsgeschichte eine durchaus wechselnde Bedeutung gehabt. Bei Homer begegnen wir den halbgöttlichen Dämonen, aber noch ganz in die Außenwelt projiziert; in jüngerer Zeit verschiebt sich der Begriff des Daimon mehr in das Innere des Menschen, wenn z. B. Heraklit den innersten Charakter des Menschen als seinen Daimon bezeichnet. Zugleich wachsen die Einzelgestalten der Dämonen zu dem eher abstrakten Neutrum des daimonion („das Dämonische“) zusammen. In diesem Sinne spricht Sokrates in seiner berühmten Verteidigungsrede vor Gericht von seinem „daimonion“ als einer Inneren Stimme, die ihn als eine Art Ratgeber durch das Leben begleitet; er spricht davon, „dass ein Göttliches und Dämonisches zu mir kommt, von dem ich euch mehrmalen und verschiedentlich gesprochen habe (….). Mir ist es von Jugend auf geschehen, dass sich mir eine Stimme hat hören lassen, und wenn sie sich hören lässt, so hält sie mich immer ab von dem, was ich tun will, treibt mich aber niemals an.“7
Die Dämonen besaßen in Griechenland keinen eigenen Kult; die späteren Philosophen – vor allem Sokrates – setzten sie mit dem Göttlichen im Menschen bzw. mit der inneren göttlichen Stimme gleich. Eine weitere Entwicklung des Begriffs lag darin, der der „Dämon“ als der persönliche Schutzgeist gedacht wurde, der jeden Einzelnen auf seinem Lebensweg begleitete und ermächtigt war, menschliches Schicksal zum Guten oder Bösen zu wenden. Vielfach wollte man den „Dämon“ für alles Verhängnisvolle verantwortlich machen, der in diesem Sinne dem Begriff „Tyche“ (Schicksal) nahekam. Auch die Römer kannten einen persönlichen Schutzgeist des Menschen, den sie den Genius nannten; er begleitete den Menschen sein ganzes Leben hindurch. Er wurde am Geburtstag der jeweiligen Person gefeiert und meist als Schlange dargestellt.
Platon sieht den Daimon als Innere Stimme, Ratgeber und Lebensbegleiter des Menschen. Dieser Ansicht hat er mehrfach in seinem Werk Ausdruck gegeben. Nehmen wir nur folgende Stelle: „Wer sagt dir denn, dass du gerade so große Macht habest wie Zeus? Nichtsdestoweniger hat er einem jeden einen Aufseher an die Seite gestellt, nämlich den Daimon eines jeden, und diesem hat er seine Bewachung anvertraut, und zwar ohne dass er schlummert oder sich hintergehen lässt. Denn wo sonst gäbe es einen besseren oder sorgsameren Wächter, dem er einen jeden von uns hätte anvertrauen können? Darum, wenn ihr die Türen verschließt und das Zimmer finster macht, so lasst euch doch niemals einfallen zu sagen: Jetzt sind wir allein. Denn ihr seid es nicht, sondern Gott ist bei euch drinnen und euer Schutzgeist (Daimon). Die bedürfen des Lichtes nicht um zu sehen, was ihr tut. Diesem Gotte solltet auch ihr einen Eid schwören, wie die Soldaten dem Kaiser.“ (Phaidon 107 d)8
Nach den Göttern und Dämonen wären nun an dritter Stelle die Heroen zu nennen. Wer sind die Heroen? Und welche Rolle spielen sie in der griechischen Mythologie? Vereinfacht ausgedrückt: Heroen sind sterbliche Menschen, durchaus mit historischer Existenz, aber solche, die den „Glanz des Göttlichen“ an sich tragen – die später, am Ende ihrer Laufbahn, zu den Göttern entrückt wurden und in ihrem Kreise fortan weilten. Wie es Karl Kerenyi treffend sagt: „Der Glanz des Göttlichen, der auf den Heros fällt, ist eigentümlich vermischt mit dem Schatten der Sterblichkeit.“9 Heroen sind also, kurz gesagt, vergöttlichte Menschen – Halbgötter, kultisch verehrte Stammväter von Geschlechtern, Städtegründer und Kulturbringer. Sie wohnten auf den Inseln der Seligen oder auf dem Olymp und genossen hohes Ansehen. Heroen waren beispielsweise Kadmos, der Begründer von Theben, Herakles, Theseus, Achilles, die Argonauten und die Helden des Trojanischen Krieges.
Schöpfungsmythen
Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. –
Wer hielt die Hut der Welt? wer schloss sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo war das Meer?
Nicht Tod war damals, nicht Unsterblichkeit,
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das Eine, außer dem kein andres war.
Von Dunkel war die Welt bedeckt,
Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; -
Da ward, was in der Schale war versteckt,
Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.
Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden,
Als der Erkenntnis Samenkeim, die Liebe; -
Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
Die Weisen, forschend in des Herzens Triebe.10
Kosmogonische Vorstellungen des Rigveda
In den Schöpfungsmythen geht es um den Ursprung der Welt und um das Werden der Götter, Menschen und anderen Naturwesen, die den Kosmos als Ganzen beseelen; dabei wird der Weg gezeichnet, der von einem formlosen Urzustand bis zu dem wohlgeordneten Kosmos der Jetztzeit führt. Bezeichnend für die Sichtweise des Rigveda ist die Suche nach einem einheitlichen Ursprung des Weltganzen. Und ansatzweise ergibt sich aus diesem Suchen die Vorstellung von dem sichselbstgebärenden Einen, die später in den Upanishaden eine so große Bedeutung gewinnen wird: „Das Eine, außer dem kein andres war“.
Das Weltschöpfungslied ist ohne Zweifel das denkerisch tiefste unter den kosmogonischen Liedern des Rigveda; der anonyme Dichter will keine eigentliche Schöpfungslehre aufstellen, sondern ihn interessiert nur das Problem, wie denn die reale Welt aus dem Nichts entstanden sei. Da aber aus dem Nichtsein niemals irgendetwas hervorgehen kann, meint der Dichter, dass es ursprünglich weder Sein noch Nichtsein gab, sondern einen Zustand jenseits von beidem. „Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch war der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründliche tiefe Wasser?“11 In diesem pralayaischen Zustand universaler Latenz webte das Eine, das die Welt aus sich selbst gebar – der universelle Weltenkeim aller Dinge. Liebesverlangen überkam das Eine, Werdelust packte es, und so entfaltete sich das All aus dem Einen; am Anfang stand also der kosmogonische Eros.
Ein immer wiederkehrendes Denkbild aus dem Rigveda ist die Vorstellung von einem Urmenschen. Mit anderen Worten, die Einheit der Welt wird daraus erklärt, dass sie aus einem einzigen Urindividuum entstanden sei. Dieses Urwesen ist Purusha („ein Mannsbild von riesenhaftem Ausmaß“ nennt ihn Geldner), und das Lied schildert seine Geburt und Weltwerdung, seine weltumspannende Größe, und dann sein Geopfertwerden durch die Götter – aus den Gliedern seines getöteten Leibes formen sie die verschiedenen Teile der Welt. Dieser Mythos vom kosmischen Menschen, vom All- und Urmenschen