Götter und Göttinnen. Manfred Ehmer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Götter und Göttinnen - Manfred Ehmer страница 7
Am Anfang seiner Theogonie schildert Hesiod seine Berufung durch die Musen, diese nämlich „lehrten einst den Hesiod schönen Gesang, als er Schafe weidete unter dem gotterfüllten Helikon“; sie händigen ihm den Rhapsoden-Stab aus und den Lorbeerkranz, als Hoheitszeichen seines Dichtertums, und dann hauchten sie ihm „eine weissagende Stimme ein, damit ich rühme, was sein wird und was vorher war“. Die Musen waren die inspirierenden Schutzgeister der Dichter; es gab neun an der Zahl, und die erste unter ihnen war Mnemosyne, das heißt die „Erinnerung“, das „Weltgedächtnis“ oder, esoterisch gesprochen, die Akasha-Chronik. Hesiod versteht sich also auch als ein Prophet, der um Zukünftiges wie um Vergangenes weiß, weil er aus dem Tableau der Welt-Erinnerung schöpft. Und nun beginnt Hesiod mit seinem gewaltigen Weltschöpfungsmythos. Er fängt an bei einem Urzustand, in dem es selbst die Götter noch nicht gab; sie waren noch nicht ins Sein getreten, es gab nur wogende Urmächte, die aus tiefsten Gründen auftauchen und ein formloses Material zu der Welt formen, wie wir sie heute kennen:
Wahrlich, zuerst entstand das Chaos und später die Erde, breitgebrüstet, ein Sitz von ewiger Dauer für alle Götter, die des Olymps beschneite Gipfel bewohnen und des Tartaros Dunkel im Abgrund der wegsamen Erde, Eros zugleich, er ist der schönste der ewigen Götter; lösend bezwingt er den Sinn bei allen Göttern und Menschen tief in der Brust und bändigt den wohlerwogenen Ratschluss. Aus dem Chaos entstanden die Nacht und des Erebos Dunkel, aber der Nacht entstammten der leuchtende Tag und der Äther, schwanger gebar sie die beiden, von Erebos‘ Liebe befruchtet.20
Hesiod führt uns hier den Zustand der Urschöpfung vor Augen. Und es ist eine interessante Tatsache, dass er als ersten Ursprung das Chaos setzt. Der Wortbedeutung nach heißt „Chaos“ so viel wie „Spalt, Höhlung“, das dazu gehörige Verb bedeutet „aufsperren, aufklaffen, gähnen“, es ist also eine klaffende Tiefe, ein gähnender Abgrund. Aber dieses Chaos ist auch ein schöpferisches Prinzip, eine Art kosmische Gebärmutter: die Nacht und der Erebos gehen aus ihm hervor, die ihrerseits zusammen den Tag und den Äther erzeugen. Allenthalben ist das Motiv der „Heiligen Hochzeit“ allgegenwärtig. Es ist die mystische Union von Nacht und Erebos, später dann auch die von Erde und Himmel. Eros ist dabei immer gegenwärtig, er fungiert als der kosmogonische Eros, als die allverbindende Kraft im Universum, die alle Polaritäten zusammenbringt und damit die Heilige Hochzeit überhaupt erst ermöglicht.
Auch vom Tartaros ist im obigen Text die Rede. Er ist der tiefste Abgrund des antiken Welt-Kosmos; auch er gehört, wie das Chaos und die Erde, zu den Urzeugungsmächten, die seit Anbeginn bestanden; einsam steht er da, ohne Stammeltern und ohne Kinder; nur mit der Erde zeugt er das Ungeheuer Typhoeos. Streng genommen gibt es hier zwei Götter-Stammbäume, einmal die Kinder des Chaos (Nacht, Erebos, Tag, Äther), und dann die der Erde, die mit dem Himmel die Titanen und alle späteren Göttergeschlechter erzeugt. „Griechische Schau der Welt, griechisches Lebensgefühl kündet sich hier, gleich zu Beginn der Götterfolge an: ein zweifacher Ursprung, zwei polare Bereiche: Unform und Form, abgründige Tiefe und klare, feste Begrenzung; vage Todesdunkelheit … und gleichmäßig wandelnde Gestirne bestehen nebeneinander. Sie mischen sich nicht, die Nachkommenschaften von Chaos und Gaia gehen keine Verbindung ein, aber sie bekämpfen sich auch nicht, es ist kein Agon zwischen Unform und Form, zwischen den Ausgeburten des Chaos und den Kindern der Gaia.“21
Ge ~ Gäa ~ Gaia
CINIS SUM, CINIS TERRA EST,
TERRA DEA EST, ERGO MORTUUS NON SUM.
Ich bin Asche, die Asche ist Erde,
Die Erde ist eine Göttin, also bin ich nicht tot.
– Grabinschrift aus der römischen Kaiserzeit
Die Erd ist unsere Mutter, Aditi ist Heimat,
Der Luftraum schirmt uns gegen Fluch und
Unheil.
Der Vater Himmel segne uns vom Himmel;
Wo ich die Brüder treffe, mög ich bleiben!
– Atharvaveda VI, 120
Bekannt sind die Namen, unter denen die zur Göttin erhobene Erde verehrt wurde: in der altgriechischen Kultur als Ge, Gäa oder Gaia, zuweilen auch als Demeter; in Rom als Terra Mater und im kleinasiatischen Raum als Kybele. Die Verehrung der Großen Muttergottheit, von der jungsteinzeitlichen Magna Mater bis hin zur ägyptischen Allgöttin isis, war nichts anderes als ein Kultus der Göttin Erde. Die ältesten Kunstwerke der Menschheit sind bekanntlich jene kleinen, aus Elfenbein geschnitzten Bildnisse der Magna Mater, die wie die berühmte Venus von Willendorf ein Alter von rund 20.000 Jahren aufweisen. Man weiß nicht genau, wen diese kleinen Statuetten eigentlich darstellen sollen. Vermutlich eine sehr archaische, mit der Macht des Weiblichen verbundene Fruchtbarkeitsgöttin. Einerlei: sie war offensichtlich die Kultgöttin der altsteinzeitlichen Mammutjäger!
„Allgemein wird angenommen, dass die sogenannten ‚Venus‘-Statuen die Erdmutter, die ,Terra oder Magna Mater‘ darstellen. Sie wurden sowohl im europäischen Osten wie in Italien, Spanien und Frankreich gefunden, und einige von ihnen stammen noch aus den Frühzeiten des sogenannten Jungpaläolithikums, der zweiten Stufe der Altsteinzeit, sind also 20 bis 30.000 Jahre alt. Diese plastischen Bildwerke haben im Gegensatz zu den Gravierungen in den Höhlen meistens Köpfe, die Gesichter sind aber nicht ausgeführt, auch hier ist stets der Leib das Wichtigste, der übermäßig groß und voll gestaltet ist. (…) Wie die Zeremonien um manche Höhlenbilder trächtiger Tiere doch wohl der magischen Förderung der Fruchtbarkeit des Jagdwildes dienen sollten, so mag auch im Glauben der Urmenschen die Erdmutter ihre Fruchtbarkeit auf die Frau, die zu ihr die Hände erhob, übertragen haben. (…) Das ist die Große Mutter der Eiszeit.“ So Britta Verhagen in ihrem Buch über die kulturellen Wurzeln des Abendlandes in der Bronzezeit.22
Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass die Erdmutter Gaia in der Ägäis und auf der griechischen Halbinsel auf ein hohes Alter zurückblickt. „Zuerst vor allen Göttern ehr ich im Gebet die Erde als die früheste Seherin“ – so beginnt Aischylos, der Schöpfer der griechischen Tragödie, sein Drama Die Eumeniden. Auch das Kultheiligtum von Delphi war ursprünglich der Erdgöttin Gaia geweiht – erst viel später wurde es dem Sonnengott Apollon zugesprochen. Gab es im klassischen Griechenland einen Gaia-Kult? Alle Zeichen weisen darauf hin. Im Kult wurde Gaia besonders in Attika verehrt; in der bildenden Kunst findet man sie meist mit Füllhorn und Früchten dargestellt. Am bekanntesten ist die bildliche Darstellung der Gaia auf dem Gigantenfries des Pergamonaltars. Wir finden hier eine Szene aus der „Gigantomachie“ dargestellt, also dem Kampf der Giganten mit den olympischen Göttern: Pallas Athene, von der Siegesgöttin Nike begleitet, ergreift den Giganten Alkyoneus; Gaia, rechts unten aus der Tiefe auftauchend, zieht ihn zu sich zurück.
Man vermutet, dass die griechisch-ägäische Gaia bis in die ersten sesshaften Ackerbaukulturen der Jungsteinzeit zurückgeht. Seit etwa 8000 v. Chr. hat sich der Ackerbau von Vorderasien über ganz Europa ausgebreitet, und es war die Bandkeramikerkultur, die – vom Balkanraum ihren Ausgang nehmend – die sesshafte Lebensweise und die mit ihr verbundene Kulturidee der Großen Muttergottheit nach Mitteleuropa brachte. Das Urgötterpaar von „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ und ihre Heilige Hochzeit schien im Mittelpunkt der europäischen Jungsteinzeit zu stehen, und dieses Denkbild verwendet noch um 700 v. Chr. der griechische Mythendichter Hesiod, wenn er aus der geheiligten Ehe zwischen der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos die Titanen, Kyklopen