5 lange und 7 kurze Krimis. A. F. Morland
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Er nimmt seine Taschenlampe, die er letztes Weihnachten bekommen hat und die seitdem fast ständig seine Hosentasche ausbeult.
Ralf öffnet das Fenster.
Ein kühler Hauch kommt herein. Und zusammen mit diesem Hauch auch ein wimmernder Laut. Da ist irgend etwas geschehen. Irgend etwas Schlimmes.
Ralf sieht nochmal zum Fernseher. Immer noch Studio. Nicht Houston. Nicht der Mond. Kein Armstrong, keine EAGLE.
„Andreas?“, ruft Ralf.
Aber da gibt es keine Antwort. Das Wimmern verstummt.
Ralf steigt nach draußen. Er läuft ein paar Schritte. Der aufkommende Wind biegt die Bäume und lässt sie rascheln.
„Wo bist du denn, du Blödmann?“
Er lässt den Strahl seiner Taschenlampe suchend herumfahren.
Und dann sieht er ihn. Andreas liegt im Gras.
Er sieht das Blut.
Viel Blut.
Und in den starren Augen spiegelt sich das Mondlicht. Der Mund steht offen – wie gefroren im Schrecken.
Da liegt auch ein Messer.
Die Klinge blitzt auf.
Zumindest dort, wo sie nicht mit Blut beschmiert ist.
Dann knackt ein Ast. Ralf lässt den Lichtkegel seiner Lampe herumfahren. Eine Gestalt schält sich aus der Dunkelheit heraus.
Ein Mann.
Er hebt den Arm vor das Gesicht, denn die Lampe blendet ihn. Ralf sieht nur die Hand und die Stirn und die hakenförmige Narbe.
Und das Blut an seinem Hemd und dem Ärmel.
Der Mann dreht sich um, stolpert davon. Er geht ganz seltsam. Mit seinem Bein stimmt was nicht.
Ralf hat schon mal jemanden gesehen, der sein Bein so bewegte. Das war im Urlaub am Strand.
Ralf hatte die ganze Zeit das Bein eines Mannes angestarrt, der vor ihm herlief, dann bei einer Sandburg stehenblieb, zum Schenkel griff, das Bein abschnallte und in den Sand steckte.
„Das kommt vom Krieg“, hatte ihm sein Vater später gesagt.
Dieser Mann geht genauso. Er hat ein Holzbein.
Aber schon einen Moment später sieht Ralf ihn nicht mehr. Er ist einfach verschwunden, so als hätte es ihn nie gegeben – und Andreas liegt da, wie eine starre Puppe, so als hätte er nie gelebt.
Anno 2009...
Vierzig Jahre später.
Der Fernseher läuft. Die alten Bilder werden noch einmal gezeigt. Immer wieder aufs neue. Die Landung von Apollo 11 – in einigen Programme sogar die Originalübertragung in voller Länge.
Ralf sieht den Adler landen.
Und sitzt wie erstarrt da. Denkt plötzlich an das Blut, das Messer, den toten Andreas und den Mann in der Dunkelheit.
„Wolltest du nicht auch immer Astronaut werden?“, fragt die demente Achtzigjährige im Rollstuhl, die ab und zu nochmal einen hellen Moment hat, ansonsten mit Ralfs Mutter aber nur den Name gemein zu haben scheint.
Ralf antwortet nicht.
„Komisch, du hast dich so sehr dafür interessiert, dass weiß ich noch genau. Aber das hatte sich dann plötzlich erledigt...“
„Ja“, murmelt er. „Das hatte es.“
„Schade, dass du so weit weg wohnst.“
Nein, denkt er. Das ist gut so.
„Ich hoffe, man sorgt hier in diesem Altenheim gut für dich“, sagt er.
Sie beugt sich vor. „Ich habe da einen Herrn kennengelernt. Der ist nett.“
„Ah, ja...“
„Hat aber genauso wenig Haare wie dein Vater früher.“
52 war Ralfs Vater nur geworden. Verkehrsunfall, Kreuzung Lengericher Straße/ Saerbecker Straße. So etwas nannte man wohl Schicksal.
Eine Dorfkneipe.
Ralf ist wegen eines Klassentreffens nach Ladbergen gekommen. Und jetzt sitzen sie beim Bier – alle die, die damals das Lesen lernten, als Neil Armstrong zum Mond flog.
„Aber der Ralf, der konnte dat schon!“, sagt einer. „Obwohl er der Jüngste war.“
„Hatte ich mir selbst beigebracht“, sagt er.
„Du wolltest doch damals immer schon was besonderes werden. Astronaut, glaube ich, oder? So wie unser größter Ladberger, hier, wie heißt er noch – Nils Armstrong.“
Neil – nicht Nils!, will Ralf ihn korrigieren, aber er behält die Worte für sich. Was soll‘s?
„Naja, aber Professor für Chemie ist ja auch nix Schlechtes oder? Nicht gerade sowas wie eine Reise zu den Sternen, aber ich schätze mal das liegt ja auch daran, dass die mit den Astronautenprogrammen damals erstmal eine Pause eingelegt hatten, wenn ich das richtig sehe...“
„Ist damals nicht der Andreas umgekommen?“, fragt eine Frau. Jetzt ist sie dünn und hager wie ein Hering. Damals, hat Ralf noch gut in Erinnerung, konnte sie kaum aus den Augen sehen, wenn sie lachte, so dick waren ihre Wangen. Wie die meisten, die am Tisch sitzen, ist sie nie aus Ladbergen herausgekommen. Anders als Ralf.
Ilona heißt sie. Die dicke Ilona, denn es gab auch noch eine andere, die dünn war. Zu Ralfs Verwirrung ist allerdings in den letzten vierzig Jahren die dünne Ilona dick geworden und die dicke dünn.
„Ja, richtig der Andreas...“, sagt jemand anderes. „Ralfi, dass war doch dein bester Freund, oder?“
„Ja“, murmelt Ralf. Er hört den Stimmen der anderen zu, ihrem Wortschwall aus Erinnerungen und Halbwahrheiten. Das gesammelte Dorfgerede eben, abgeschliffen und in seinem wahren Kern etwas verfälscht durch die Zeit.
„Ich meine die Polizei, die hat ja damals nicht so richtig herausfinden können, wer das nun eigentlich gewesen ist.“
„Ja, aber es gab in den nächsten Jahren noch drei weitere Kinder, die hier in der Gegend umgebracht wurden.“
„Ich meine, so'n Wort wie Kinderschänder, da hat man ja damals nur hinter vorgehaltener Hand von gesprochen.“
„Ich weiß noch, dass wir einige Zeit kaum raus durften und unsere Eltern uns überall hingebracht hatten.“
„Ja, das hat sich dann bald auch gelegt. Ich meine du kannst Kinder doch nicht rund um die Uhr überwachen!“
„Hat sich das nicht in der Nacht des