Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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Sikes schien in einer Laune zu sein, die keinen Scherz vertrug.
„Hilf mir den Jungen weiterschaffen“, brüllte Sikes, seinem Kumpan energisch zuwinkend. „Komm zurück!“
Toby tat, als ob er umkehre, wagte jedoch mit leiser, atemloser Stimme einige Einwendungen zu machen.
„Schneller!“ schrie Sikes, legte Oliver in einen trockenen Graben und zog die Pistole aus der Tasche. „Halte mich ja nicht zum Narren!“
In diesem Augenblick wurde der Lärm lauter, und als Sikes sich umsah, bemerkte er, daß die Verfolger schon über den Zaun des Feldes kletterten, auf dem er sich befand. Ein paar Hunde rannten bereits vorweg.
„Ist nichts mehr zu wollen, Bill“, rief Toby. „Laß den Jungen liegen und türme!“
Mit diesen Worten machte Herr Crackit rechtsum und rannte davon, so schnell ihn die Beine tragen konnten. Sikes knirschte mit den Zähnen, sah sich nochmal schnell um und bedeckte Oliver mit dem Mantelkragen. Dann lief er längs der Hecke hin, um die Aufmerksamkeit der Verfolger von der Stelle, wo der Junge lag, abzulenken. An einer zweiten Hecke, die mit der ersten im rechten Winkel zusammenstieß, stand er still und setzte dann mit einem kühnen Sprung drüber weg, nachdem er noch vorher seine Pistole fortgeworfen hatte.
„Caesar! Neptun! Hierher! Zurück!“ rief eine zittrige Stimme. Die Hunde, die auch kein großes Vergnügen an der Hetzjagd zu haben schienen, gehorchten sofort. Und drei Männer machten nun halt, um gemeinsam zu beraten.
„Mein Rat – das heißt mein Befehl – ist, daß wir sofort wieder nach Hause gehen“, sagte der dickste von den dreien.
„Mir ist alles recht, was Herr Giles für richtig hält“, versetzte ein kleinerer, aber keineswegs schlanker Mann, der sehr blaß aussah und äußerst höflich war, wie man das häufig bei furchtsamen Leuten findet.
Ich möchte nicht unmanierlich erscheinen, meine Herren“, sagte der dritte Mann, der die Hunde zurückgerufen hatte, „Herr Giles muß es am besten wissen!“
„Gewiß“, sagte der kleinere, „und was auch immer Herr Giles sagen mag, wir dürfen ihm nicht widersprechen. Ich weiß, was sich gehört. Gott sei Dank weiß ich das!“ Dabei klapperten ihm die Zähne im Munde vor Furcht.
„Du fürchtest dich, Brittles!“ sagte Herr Giles.
„Durchaus nicht.“
„Doch“, meinte Herr Giles.
„Ist ein Irrtum“, entgegnete Brittles.
„Du lügst, Brittles!“ rief Herr Giles.
Der dritte Mann schlichtete den Streit In höchst philosophischer Weise, indem er meinte, daß sie sich alle drei fürchteten.
„Da mögt Ihr für Euch selbst gesprochen haben“, versetzte Herr Giles, der am meisten blaß war.
„Allerdings“ erwiderte jener, „es ist doch ganz natürlich, daß man sich in solcher Lage fürchtet. Ich fürchte mich.“
„Ich auch“, sagte Brittles, „aber es ist unnötig, daß einem das geradezu ins Gesicht gesagt wird.“
Diese freimütigen Eingeständnisse besänftigten Herrn Giles, der nun auch gestand, daß er sich gleichfalls fürchte. Alle drei machten jetzt kehrt und liefen in schönster Eintracht zurück. Nach einer kleinen Weile bestand der engbrüstige Herr Giles darauf, daß ausgeruht werde, außerdem wolle er sich für seine vorigen übereilten Worte entschuldigen.
„Es ist doch erstaunlich“, fuhr Herr Giles fort, nachdem er einige Entschuldigungsworte gesagt hatte, „wozu ein Mensch fähig sein kann, wenn sein Blut in Wallung gekommen ist. Ich hätte einen Mord begangen, wenn uns einer der Spitzbuben in die Hände gefallen wäre!“
Die beiden anderen meinten, sie hätten gegebenenfalls auch gemordet.
Dieses Gespräch führten die zwei Männer, welche die Einbrecher bei ihrer Tat überrascht hatten, und ein wandernder Kesselflicker, der in einem Nebengebäude ein Nachtlager erhalten hatte. Dieser hatte sich mit seinen zwei Hunden der Diebesjagd angeschlossen. Herr Giles versah in der Villa der alten Dame den Dienst eines Haus- und Kellermeisters, und Brittles war das Faktotum. Er war schon als Kind zu der alten Dame gekommen, und obgleich er bereits in den Dreißigern war, wurde er immer noch wie ein Junge behandelt.
Die drei eilten nun auf den Baum zu, wo sie ihre Laterne hatten stehenlassen, und nahmen sie an sich. Dann trabten sie heim.
Mit Tagesanbruch wurde es kälter, und dichter Nebel bedeckte das Land. – Oliver lag noch immer bewußtlos da, wo Sikes ihn hingelegt hatte. Es fing stark zu regnen an, aber Oliver fühlte die Nässe nicht. Nach einer ganzen Weile weckte ihn ein heftiger Schmerz, und er schrie laut auf. Sein linker, mit einem Halstuch notdürftig verbundener Arm hing schwer und regungslos an seiner Seite nieder, und der Verband war mit Blut getränkt. Er war so schwach, daß er sich kaum aufrichten konnte. Er machte dann den Versuch, sich zu erheben, aber es war vergebliches Bemühen, er fiel der Länge nach zu Boden.
Nachdem sich Oliver von diesem neuen Ohnmachtsanfalle erholt hatte, sagte er sich, daß er unfehlbar sterben müsse, wenn er liegenbleibe. Er versuchte deshalb aufs neue aufzustehen und zu gehen. Ihm war schwindelig, und er wankte wie ein Betrunkener hin und her. Er hielt sich trotzdem auf den Beinen und taumelte mit herabhängendem Kopfe vorwärts, ohne zu wissen wohin. Er kroch fast mechanisch durch die Lücken der Hecken, die ihm den Weg versperrten, bis er eine Straße erreichte. Er sah sich um und sah in nicht allzu großer Entfernung ein Haus, das er möglicherweise erreichen konnte. Vielleicht hatte man dort Mitleid mit ihm, und wenn nicht, dünkte es ihn besser, in der Nähe menschlicher Wesen als einsam auf freiem Felde zu sterben. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und wankte auf das Haus zu. Als er näherkam, erinnerte er sich, es schon früher gesehen zu haben. Auf Einzelheiten konnte er sich zwar nicht besinnen, aber das Äußere des Gebäudes kam ihm bekannt vor.
Ach, diese Gartenmauer! Und dort auf dem Rasen hatte er vor den beiden Halunken auf den Knien gelegen. Es war dasselbe, in das sie eingebrochen waren.
Als Oliver dies erkannte, bemächtigte sich seiner eine solche Furcht, daß er darüber seine schmerzende Wunde ganz vergaß und nur an Flucht dachte. Flucht? Er konnte ja kaum stehen, und wenn er auch im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen wäre, wohin hätte er fliehen können? Er stieß die Gartentür auf, sie war unverschlossen. Er wankte über den Rasenplatz, klomm die Eingangstreppe hinauf und klopfteleise an die Tür. Dann schwanden seine Sinne, und er sank ohnmächtig nieder.
Zur selben Zeit erholten sich die Herren Giles und Brittles sowie der Kesselflicker von den Strapazen der Nacht durch eine Tasse Tee und allerlei Kleinigkeiten. Es war sonst nicht die Art des Herrn Giles, sich zu einer allzu großen Vertraulichkeit gegen Untergebene herabzulassen. Gegen diese benahm er sich eher mit einer gewissen würdevollen Leutseligkeit, die, so gewinnend sie war, doch stets an seine höhere Stellung erinnerte. Aber Tod, Feuersnot und Einbruch machen alle Menschen gleich. Also Herr Giles saß mit ausgestreckten Beinen vor dem Küchenherd, den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt, und gestikulierte lebhaft mit dem rechten Arm, als er seinen Zuhörern einen genauen und umständlichen Bericht des Einbruchs gab. Diese hörten mit atemloser Spannung zu, besonders aber das Hausmädchen und die Köchin.
„Es war ungefähr halb drei Uhr“, erzählte Herr Giles, „ich will aber nicht darauf schwören, ob es nicht vielleicht ein bißchen näher an drei war – als ich aufwachte,