Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens

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Gesammelte Erzählungen - Charles Dickens

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Kapitel

      Was die beiden Damen und Doktor Losberne von Oliver dachten

      Unter vielen geschwätzigen Versicherungen, daß sie der Anblick des Verbrechers angenehm überraschen werde, bot der Doktor Fräulein Rosa den Arm, reichte Frau Maylie die andere Hand -und führte die Damen mit etwas altfränkischer Galanterie die Treppe hinauf.

      „Nun“, sagte der Doktor leise, als er sachte auf die Klinke der Tür drückte, „ich bin gespannt zu hören, was Sie von ihm halten. Er ist zwar unrasiert, sieht aber trotzdem nicht wie ein Räuber aus. Einen Augenblick – ich will erst nochmal nachsehen, ob er in der Verfassung ist, Besuch zu empfangen!“

      Er ging zuerst ins Zimmer, sah sich darin um, winkte dann seinen Begleiterinnen hereinzukommen, schloß die Tür und schob langsam die Bettgardine zurück. Man sah im Bett statt eines wüst aussehenden Verbrechers, wie man erwartete, ein Kind, das vor Schmerz und Erschöpfung in tiefen Schlaf versunken war. Der verwundete Arm lag verbunden auf seiner Brust, während der Kopf auf dem anderen ruhte, der durch Olivers lang hinabwallendes Haar fast verdeckt wurde.

      Der wackere Doktor hielt die Gardine in der Hand und sah den Kleinen schweigend an. Inzwischen trat die junge Dame näher und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bette. Sie strich dem Jungen das Haar aus dem Gesicht, und als sie sich über ihn beugte, fielen einige Tränen auf seine Stirn.

      Oliver regte sich und lächelte im Schlaf, als ob dieses Zeichen von Mitleid und Erbarmen irgendeinen süßen Traum von nie gekannter Liebe in ihm hervorriefe.

      „Was bedeutet das nur?“ rief die alte Dame. „Dieser arme Junge kann doch nie und nimmer ein Spitzbube sein.“

      „Das Laster“, seufzte der Arzt und zog die Gardine wieder zu, „schlägt seinen Wohnsitz in gar vielen Tempeln auf, und wer kann sagen, ob es sich nicht auch hinter einer schönen Außenseite versteckt.“

      „Aber doch nicht in so früher Jugend?“ meinte Rosa.

      „Mein liebes Fräulein“, entgegnete der Doktor, traurig den Kopf schüttelnd, „das Laster ähnelt dem Tode und beschränkt sich nicht allein auf die Alten und Abgelebten, es sucht sich nur zu oft unter den Jüngsten und Schönsten seine Opfer.“

      „Ach können Sie wirklich glauben, daß dieser zarte Knabe sich freiwillig dem Auswurf der Menschheit angeschlossen hat?“ fragte Rosa.

      Der Doktor bewegte den Kopf in einer Weise, die anzudeuten schien, daß er es für möglich halte; dann führte er die Damen mit der Bemerkung, der Kranke könnte gestört werden, in ein anstoßendes Zimmer.

      „Aber selbst, wenn er verbrecherisch gewesen wäre“, fuhr Rosa fort, „bedenken Sie, wie jung er ist. Vielleicht hat er nie Mutterliebe, vielleicht nie ein Heim gekannt und ist durch schlechte Behandlung, Prügel oder Hunger an Menschen geraten, die ihn zu Verbrechen zwangen. Tante, liebste Tante, bedenken Sie das, ehe Sie das kranke Kind ins Gefängnis schleppen lassen, das jedenfalls das Grab für jede Möglichkeit einer Besserung werden muß. Haben Sie daher Mitleid mit ihm, ehe es zu spät ist!“

      „Liebes Kind“, sagte die alte Dame und drückte das weinende Mädchen an ihre Brust, „glaubst du, ich werde dem Knaben ein Haar krümmen lassen?“

      „O nein, sicher nicht“, versetzte Rosa lebhaft.

      „Meine Tage sind gezählt“, fuhr die alte Dame fort, „und der Herr wird mir gnädig und barmherzig sein, wie ich auch mit anderen Erbarmen habe! Was kann ich zur Errettung des Knaben tun, Herr Doktor?“

      „Ich will darüber nachdenken, gnädige Frau. Muß mal überlegen.“

      Herr Losberne steckte die Hände in die Tasche und ging einige mal im Zimmer auf und ab. Er zog die Stirn in ernste Falten und murmelte vor sich hin: „ich hab’s“ und dann auch wieder: „nein, so geht’s nicht“. Endlich blieb er stehen und hob an: „Wenn Sie mir unbeschränkte Vollmacht geben Giles und Brittles, den großen Jungen, ins Bockshorn zu jagen, glaube ich, läßt’s sich machen. Sie können es ihnen ja wiedergutmachen. Nicht wahr, Sie haben nichts einzuwenden?“

      „Nein, vorausgesetzt, daß es kein anderes Mittel zur Rettung des Kindes gibt“, erwiderte Frau Maylie.

      „Es gibt kein anderes, mein Wort darauf.“

      „Dann gibt Ihnen Tante unbeschränkte Vollmacht“, sagte Rosa unter Tränen lächelnd. „Aber gehen Sie nicht härter mit den beiden um, als unumgänglich nötig ist.“

      „Sie scheinen zu glauben“, entgegnete der Doktor, „daß alle Welt heute hartherzig ist, Sie selbst ausgenommen, Fräulein Rosa. Ich will nur hoffen, daß der erste Ihrer würdige junge Mann, der Ihr Mitgefühl in Anspruch nimmt, Sie in einer ebenso weichherzigen Stimmung treffen möge; und ich möchte wünschen, selbst ein junger Bursche zu sein, um von der günstigen Gelegenheit Nutzen ziehen zu können.“

      „Sie sind ein ebenso großes Kind wie unser Brittles“, versetzte Rosa rotwerdend.

      „Nun“, sagte der Doktor mit herzlichem Lachen, „dazu gehört nicht viel; aber um auf unsern Jungen zurückzukommen. Den Hauptpunkt unseres Übereinkommens haben wir noch gar nicht erörtert. Er wird etwa in einer Stunde aufwachen; und obgleich ich dem schafsköpfigen Ortspolizisten gesagt habe, daß man mit dem Jungen wegen seines gefährlichen Zustandes nicht sprechen dürfe, glaube ich doch, daß wir es unbedenklich tun können. Ich stelle nun die Bedingung, daß ich ihn in Ihrer Gegenwart ausfragen darf. Lassen seine Antworten erkennen, – und und ich halte es für mehr als möglich – daß er wirklich durchaus verdorben ist, so soll er ohne weiteres seinem Schicksal überlassen werden, wenigstens ich kümmere mich dann nicht mehr um ihn.“

      „O nein, Tante!“ flehte Rosa.

      „Doch, Tante!“ sagte der Doktor. „ist es abgemacht?“

      „Er kann kein hartgesottener Verbrecher sein“, meinte Rosa, „das ist unmöglich.“

      „Nun also“, erwiderte der Doktor, „um so weniger ist Grund vorhanden, auf meinen Vorschlag nicht einzugehen.“

      Man einigte sich schließlich und setzte sich, um Olivers Erwachen zu erwarten.

      Die Geduld der beiden Damen wurde auf eine härtere Probe gestellt, als man nach Herrn Losbernes Reden annehmen konnte. Stunde auf Stunde verging, und immer noch lag Oliver im tiefsten Schlaf. Es war Abend geworden, als ihnen der Doktor mitteilen konnte, daß Oliver erwacht und verhandlungsfähig sei. Der Junge wäre allerdings durch den großen Blutverlust sehr geschwächt, aber sein Gewissen verlange so dringend etwas zu beichten, daß es besser wäre, ihn reden zu lassen, als ihm bis morgen Ruhe und Schweigen zu verordnen, was unter anderen Umständen ratsamer gewesen wäre.

      Die Unterredung währte lange, denn Oliver erzählte ihnen seine ganze Lebensgeschichte und mußte verschiedene mal vor Schmerz und Schwäche innehalten. Es hörte sich feierlich an, als im dunklen Zimmer die schwache Stimme des kranken Kindes flüsterte und einen traurigen Bericht gab von dem Jammer, Elend und Leiden, die schlechte, grausame Menschen über ihn gebracht hatten.

      Sobald die Beichte zu Ende war, wurde Oliver wieder zur Ruhe gebracht, und der Doktor begab sich hinunter, um Herrn Giles aufs Korn zu nehmen. Er wischte sich die Augen und verfluchte dieselben wegen ihrer Schwäche.

      In der Küche waren alle Dienstboten versammelt, Herr Giles, Herr Brittles, das weibliche Personal, der Kesselflicker, der in Anbetracht seiner geleisteten

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