Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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„Wir nehmen dankend an, gnädiges Fräulein“, sagte Blathers und fuhr sich mit dem Rockärmel über den Mund.
„Solche Verhöre machen die Kehle trocken. Bitte, keine Umstände unsertwegen, was gerade zur Hand ist.“
„Was wäre Ihnen am liebsten?“ fragte der Doktor, der jungen Dame zum Büfett folgend.
„Einen Tropfen Brandy, Herr, wenn es Ihnen gleich ist. Es war kalt auf dem Wege von London hierher, und ich finde immer, ein Gläschen Brandy wärmt das Herz so angenehm!“
Diese interessante Feststellung war an Frau Maylie gerichtet, die sie sehr freundlich aufnahm. Der Doktor schlüpfte inzwischen aus dem Zimmer.
„Ja, meine Damen“, sagte Blathers und hob das Glas hoch, „ich habe während meiner Dienstzeit eine ganze Anzahl solcher Fälle bearbeitet.“
„Zum Beispiel den Einbruch in Edmonton“, sagte Duff, dem Gedächtnisse seines Kollegen nachhelfend.
„Ja, das war ein ganz ähnlicher Fall, nicht wahr?“ meinte Herr Blathers. „Conkey Chickweed war der Täter!“
„Das hast du immer gesagt“, erwiderte Duff, „aber ich behaupte, es war die Familie Pet, und Conkey hatte daran keinen größeren Anteil als ich selber.“
„Ach geh“, entgegnete Blathers, „ich weiß das besser. Erinnerst du dich, daß damals auch Conkey sein Geld gestohlen wurde? Was das für ein Aufsehen machte! Mehr als der neuste Sensationsroman!“
„Wie war das?“ fragte Rosa, ängstlich besorgt, die unwillkommenen Gäste bei guter Laune zu erhalten.
„Das war ein Spitzbubenstreich, gnädiges Fräulein, auf den kaum irgendein anderer verfallen wäre“, antwortete Blathers. „Der Conkey Chickweed also hatte ein Wirtshaus, der Battlebrücke gegenüber, und einen Keller, wo viele junge Lords hinkamen, um den Hahnenkämpfen, Dachshetzen und dergleichen zuzuschauen. Er gehörte damals noch nicht zur Diebeszunft; da wurden ihm einmal mitten in der Nacht dreihundertsiebenundzwanzig Guineen, in einem Sacke befindlich, von einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster über dem Auge aus seiner Schlafstube gestohlen. Der Dieb, der sich unter dem Bette versteckt hatte, sprang nach der Tat aus dem Fenster. Aber Conkey war nicht weniger flink, durch das Geräusch geweckt, fuhr er schnell aus seinem Bett heraus, und schoß eine Kugel auf den Flüchtling ab; er brachte durch den Knall die ganze Nachbarschaft auf die Beine. Bei näherer Untersuchung ergab sich, daß Conkey den Dieb getroffen hatte, denn man konnte auf einer ziemlichen Strecke Blutspuren verfolgen, die sich schließlich verloren. Das Geld aber war weg, und Herr Chickweed machte Bankerott. Man eröffnete Subskriptionen für den armen Mann und ließ Sammellisten und, weiß der Henker, was noch alles für ihn herumgehen. Dieser lief mit gerauftem Haar wie ein Verrückter durch die Straßen, und man befürchtete, er würde sich ein Leid antun. Eines Tages kam er in fliegender Eile auf die Polizei und hatte eine geheime Unterredung mit dem Polizeirichter, der am Schluß derselben nach Jem Spyers klingelte und diesen, einen unserer tüchtigsten Detektive, beauftragte, Herrn Chickweed bei der Ergreifung des Diebes zu helfen. ‚Ich sah ihn gestern morgen an meinem Hause vorbeigehen‘, sagte Chickweed. ‚Warum haben Sie ihn nicht gleich am Kragen gepackt?‘ fragte Spyers. – ‚Ich war so bestürzt, daß man mir den Schädel mit einem Zahnstocher hätte einschlagen können. Wir werden ihn aber bestimmt erwischen, denn zwischen zehn und elf Uhr abends kam er wieder vorbei.‘ Spyers hatte dies kaum gehört, als er seine Reisetasche packte und mit Conkey fortging. Er setzte sich in Conkeys Wirtshaus hinter einen Fenstervorhang, den Hut auf dem Kopf, um jederzeit zur Verfolgung bereit zu sein. Plötzlich, in später Nacht, fing Chickweed zu schreien an: ‚Da ist er! Haltet den Dieb!‘ Jem Spyers stürzt hinaus und sieht Chickweed, in einem fort rufend, durch die Straßen rennen. Von allen Seiten eilen Leute herbei, und überall schallt der Ruf ‚Diebe!‘, wobei Chickweed am lautesten schreit. Spyers verliert ihn an einer Ecke eine Minute aus dem Gesicht – schießt herum – sieht eine kleine Gruppe – dringt hinein. ‚Welches ist der Dieb?‘ – ‚Verflucht‘, sagt Chickweed, ‚ich hab’ ihn wieder verloren!‘“
„Das war merkwürdig, aber da man keinen Dieb fand, so gingen sie wieder ins Wirtshaus zurück. Am nächsten Morgen saß Spyers wieder auf seinem Posten hinter dem Fenstervorhang und guckte sich nach einem großen Mann mit einem schwarzen Pflaster schier die Augen aus. Endlich konnte er sich nicht enthalten, sie für eine Minute zu schließen, und im Augenblick hörte er Chickweed brüllen: ‚Da ist er!‘ Er rannte abermals hinaus, Chickweed die halbe Straßenlänge voraus, und nach einem zweimal so langen Rennen als gestern hatte man den Dieb wieder aus dem Gesicht verloren. Dies wiederholte sich noch verschiedene Male, bis die eine Hälfte der Nachbarn meinte, Herr Chickweed sei vom Teufel bestohlen worden, der ihn außerdem noch nachträglich foppe, während die andere Hälfte sagte, der arme Herr Chickweed sei vor Kummer närrisch geworden.“
„Und was sagte Jem Spyers?“ fragte der Doktor, der kurz nach Geschichtsanfang wieder ins Zimmer getreten war.
„Der sagte zuerst gar nichts“, fuhr Blathers fort, „horchte aber auf alles, ohne daß man es merkte. Ein deutlicher Beweis, daß er sein Geschäft verstand. Eines Morgens aber trat er an den Schenktisch, zog seine Schnupftabaksdose heraus und sagte: ‚Chickweed, ich hab’s heraus, wer diesen Diebstahl begangen hat.‘ – ‚Wirklich?‘ versetzte Chickweed, ‚ach, lieber Spyers, ich will zufrieden sterben, wenn ich an diesem Spitzbuben gerächt bin! Wo ist er?‘ – ‚Ach‘, sagte Spyers und bot ihm eine Prise an, ‚lassen Sie doch diese faulen Witze – Sie haben es selbst getan.‘ – Und so war’s auch, und er hatte ein schönes Stück Geld damit gemacht. Wäre er nicht so ängstlich bemüht gewesen, allen bösen Schein zu vermeiden, so wäre die Geschichte nie ans Licht gekommen!“ schloß Herr Blathers. Er setzte sein Glas auf den Tisch und spielte wieder mit den Handschellen.
„In der Tat, ein merkwürdiger Fall“, meinte der Doktor. „Wenn es Ihnen recht ist, können wir jetzt zu dem Jungen hinaufgehen.“
Herr Giles leuchtete den beiden Beamten und Herrn Losberne nach Olivers Zimmer.
Dieser hatte geschlafen, aber er sah kränker und fiebriger aus als vorher. Er richtete sich mit des Doktors Hilfe im Bette auf, blickte verständnislos auf die Fremden und schien keine Ahnung davon zu haben, wo er sich befand.
„Das“, sagte Herr Losberne lebhaft, aber mit leiser Stimme, „ist der Junge, der auf eines Nachbarn Grundstück durch Selbstschuß verwundet wurde und heute morgen hier um Hilfe anklopfte. Er wurde dann sogleich von diesem schlauen Herrn da, der die Kerze in der Hand hat, ergriffen und in einer Weise mißhandelt, die lebensgefährlich genannt zu werden verdient. Ich sage das als Sachverständiger.“
Herr Giles blickte verdutzt auf die Polizeibeamten und den Doktor.
„Ich nehme an, Sie wollen das nicht ableugnen“, sagte der Doktor und legte Oliver wieder in die Kissen zurück.
„Es geschah alles in der besten Absicht“, antwortete Giles. Gewiß – ich dachte, es wäre der Junge, sonst hätte ich mich nicht in der Weise an ihm vergriffen. Ich bin doch kein brutaler Kerl, Herr Doktor.“
„Sie dachten, es wäre wessen Junge?“ fragte Blathers.
„Des Einbrechers Junge“, antwortete Giles. „Sie hatten einen Jungen bei sich.“
„Glauben Sie das noch?“
„Was, glauben?“ fragte Giles mit leerem Blick.
„Daß es derselbe Junge ist, den die Einbrecher bei sich hatten, Idiot!“ sagte Blathers ungeduldig.