Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen - Charles Dickens страница 49
Es ist schon etwas, zu wissen, daß keine Zeit verloren gegangen ist, wenn man nach Hilfe geschickt hat. Oliver eilte daher mit erleichtertem Herzen über den Hof und wollte gerade durch den Torweg gehen, als er gegen einen großen Mann rannte, der in einen Mantel gehüllt aus dem Gasthaus trat.
„Donnerwetter, was ist das?“ schrie dieser und prallte zurück.
„Verzeihung, ich wollte schnell nach Hause und habe Sie nicht kommen sehen.“
„Tod und Teufel!“ brummte der Mann vor sich hin und stierte Oliver mit seinen großen schwarzen Augen an. „Wer hätte das gedacht! Selbst, wenn man ihn zu Staub mahlen würde, stünde er aus seinem Felsengrabe wieder auf und käme mir in die Quere.“
„Es tut mir leid“, stammelte Oliver, betroffen von dem wilden Blick des Mannes. „Es ist Ihnen doch nichts passiert?“
„Krepiere!“ zischte der Fremde wütend durch die zusammengebissenen Zähne. „Hätte ich nur den Mut gehabt, das einzige Wort auszusprechen, so wäre ich ihn in einer Nacht losgeworden. Fluch auf dein Haupt und die Pest in deinen Leib, du Teufelsbraten. Was hast du hier zu schaffen?“
Der Unbekannte drohte mit der Faust, als er diese unzusammenhängenden Worte sprach. Wie er sich jedoch auf Oliver stürzen wollte, um ihn zu schlagen, fiel er plötzlich mit Krämpfen auf die Erde, und dicker Schaum trat ihm auf die Lippen.
Oliver eilte ins Haus, um Hilfe für den Wahnsinnigen herbeizuholen, denn dafür hielt er ihn. Als er ihn in guter Obhut wußte, verlor er keine Zeit und begann mit großer Hast nach Hause zu rennen, dabei nicht ohne Bangigkeit an das merkwürdige Benehmen des Fremden zurückdenkend.
Mit Rosa Maylie war es schlimmer geworden, das Fieber hatte einen hohen Grad erreicht, und sie phantasierte. Ein im Dorfe wohnender Mediziner, der nicht von ihrem Bette wich, hatte Frau Maylie beiseite genommen und ihr erklärt, daß es ein schwerer Fall wäre. Ein Wunder würde es sein, wenn sie wieder aufkäme.
Wie oft sprang in der Nacht Oliver aus dem Bette, um ängstlich und besorgt an der Zimmertür der Kranken zu horchen. Wie heiß und innig betete er für das Leben und die Gesundheit des edlen Mädchens.
Der Morgen kam, und das kleine Landhaus war still und öde. Man sprach nur im Flüsterton. Losterne langte erst spät in der Nacht an.
„Es ist furchtbar traurig“, sagte der Doktor, indem er sein Gesicht abwandte, „so jung – von allen geliebt – und so wenig Hoffnung.“
Am nächsten Morgen strahlte die Sonne so herrlich, als ob sie keinen Schmerz zu bescheinen hätte. Oliver schlich nach dem Gottesacker, setzte sich auf einen Grabhügel und weinte bittere Tränen um Rosa. Seine traurigen Gedanken unterbrach das Läuten der Kirchenglocke. Sie rief zu einem Leichenbegängnis. Eine Gruppe Leidtragender trat durch das Friedhofstor – mit weißen Bändern geschmückt, denn es sollte ein Jüngling begraben werden. Sie standen mit entblößten Häuptern um das Grab und weinten. Aber die Sonne schien heiter vom Himmel, und die Vögel sangen lustig in den Zweigen.
Oliver kehrte heim, und als er zu Hause anlangte, saß Frau Maylie in dem kleinen Wohnzimmer. Sein Mut sank, als er sie sah, denn sie hatte das Krankenlager ihrer Nichte nie verlassen. Er erfuhr, daß Rosa in einen tiefen Schlaf verfallen sei, aus dem sie entweder zum Leben oder zum letzten Abschied erwachen würde.
Sie saßen stundenlang, ohne zu sprechen, in Erwartung beieinander und rührten keine Speisen an. Schließlich erfaßten ihre lauschenden Ohren das Geräusch näher kommender Tritte und sie eilten beide zugleich an die Tür, als Herr Losberne eintrat.
„Wie geht es Rosa?“ fragte Frau Maylie. „Schnell, sagen Sie es mir! Ich kann alles, nur nicht diese peinvolle Ungewißheit vertragen! Sprechen Sie, reden Sie, um Himmels willen!“
„Fassen Sie sich“, sagte der Doktor, sie stützend. „Ich bitte, bleiben Sie ruhig, liebe, gnädige Frau!“
„Um Gottes Willen, lassen Sie mich! Mein armes Kind! Sie ist tot! Sie liegt im Sterben!“
„Nein!“ sagte der Doktor bewegt. „Da ER gütig und barmherzig ist, wird sie leben, um uns noch viele Jahre zu beglücken.“
Die alte Dame fiel auf die Knie und versuchte, ihre Hände zu falten. Die Willenskraft aber, die sie so lange aufrecht erhalten hatte, versagte mit dem ersten Dankgebet, das sie zum Himmel sandte, und sie sank ohnmächtig in die Arme des herbeieilenden Doktors.
Vierunddreißigstes Kapitel
Enthält einige einleitende Bemerkungen über einen jungen Herrn, der jetzt auf der Bildfläche erscheint, und ein neues Abenteuer, das Oliver erlebt
Es war fast des Glückes zuviel, um ertragen werden zu können. Oliver war durch diese unerwartete Nachricht ganz betäubt. Er vermochte weder zu weinen, noch zu sprechen. Ein langer Spaziergang in der weichen Abendluft, auf dem er reichlich Tränen vergoß, brachte ihm Erleichterung. Jetzt erst schien er auf einmal zum vollen Bewußtsein der glücklichen Wendung gekommen zu sein, und seine Brust fühlte sich von einem Alp befreit. Die Nacht war bereits hereingebrochen, als er nach Hause ging, beladen mit Blumen, die er mit besonderer Sorgfalt für die Kranke gepflückt hatte.
Plötzlich hörte er hinter sich eine Postkutsche in rasender Fahrt herankommen. Als der Wagen an ihm vorbeijagte, konnte Oliver im Innern einen Mann mit weißer Nachtmütze erkennen, dessen Gesicht ihm bekannt vorkam. Im nächsten Augenblick fuhr die Nachtmütze durch das Fenster heraus und befahl dem Postillon mit mächtiger Stimme haltzumachen. Als die Pferde standen, kam der Kopf mit der Nachtmütze wieder zum Vorschein, und eine bekannte Stimme rief Oliver an.
„Hallo, wie steht’s? Was macht Fräulein Rosa?“
„Ach, Sie sind es, Giles!“ schrie Oliver und eilte an den Wagenschlag.
Giles wollte gerade etwas erwidern, als er durch einen jungen Mann beiseite gedrängt wurde, der in einer Ecke des Wagens saß. Hastig fragte er Oliver nach dem Stand der Dinge zu Hause.
„Mit einem Wort“, rief der junge Herr „geht es besser oder schlechter?“
„Besser – viel besser“, sagte Oliver schnell.
„Gott sei Dank!“ rief der Herr. „Weißt du es auch ganz gewiß?“
„Ganz gewiß“, entgegnete Oliver. „Die Wendung zum Besseren trat erst vor ein paar Stunden ein, und Herr Losberne meint, alle Gefahr wäre nun vorüber.“
Ohne ein weiteres Wort zu sagen, sprang der junge Herr aus dem Wagen und zog Oliver zur Seite.
„Du bist ganz sicher, mein Junge, ein Irrtum deinerseits ist ausgeschlossen?“ fragte der Herr mit bebender Stimme. „Erwecke nicht unnötigerweise Hoffnungen in mir, die vielleicht nie in Erfüllung gehen.“
„Um keinen Preis würde ich das tun. Sie dürfen mir schon glauben. Es sind des Doktors eigene Worte, daß sie leben werde, um uns alle noch