Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens

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Gesammelte Erzählungen - Charles Dickens

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alles Suchen war vergeblich. Nicht einmal frische Fußspuren ließen sich entdecken.

      „Du mußt geträumt haben, Oliver“, sagte Harry, ihn beiseite nehmend.

      „Nein, nein, gewiß nicht. Ich habe ihn ganz deutlich gesehen. Sie standen so bestimmt vor mir wie Sie jetzt.“

      „Wer war der andere?“ fragten Harry und der Doktor zu gleicher Zeit.

      „Derselbe Mensch, der mich, wie ich Ihnen erzählte, im Gasthaus des Posthalters so ausschimpfte. Er sah mir gerade in die Augen, und ich könnte darauf schwören, daß er es wäre.“

      „Und weißt du auch ganz gewiß, daß sie diesen Weg einschlugen?“

      „So gewiß, wie ich weiß, daß sie vor dem Fenster standen.“

      Die beiden Herren sahen Olivers ernstes Gesicht und guckten dann einander an, sie schienen sich durch seine bestimmten Antworten überzeugen zu lassen. Aber nirgends ließen sich Spuren finden. Das Gras war lang und nur da niedergetreten, wo sie selbst gelaufen waren.

      „Das ist merkwürdig“, meinte Harry.

      „Sehr merkwürdig!“ bestätigte Herr Losberne. „Selbst Blathers und Duff vermöchten nicht klug daraus zu werden.“

      Trotz der anscheinenden Erfolglosigkeit ihres Suchens, setzten sie es bis zum Einbruch der Nacht fort, erst dann ließen sie, wenn auch ungern, davon ab.

      Am nächsten Morgen wurden die Nachsuchungen wieder aufgenommen, aber mit keinem günstigeren Erfolge. Tags darauf gingen Harry und Oliver nach dem Marktflecken in der Hoffnung, vielleicht dort etwas über die Männer zu erfahren, aber vergebens; und nach einigen Tagen fing man an, die Geschichte zu vergessen, nachdem der Reiz des Seltsamen aus Mangel an neuer Nahrung erstorben war.

      Inzwischen ging es mit Rosas Genesung schnell vorwärts. Sie durfte das Zimmer verlassen, konnte ausgehen und brachte, als sie dem Familienkreise wieder zurückgegeben war, Sonne und neues Leben in aller Herzen.

      Aber obgleich sich in den Räumen des kleinen Landhauses wieder heiteres Geplauder und frohes Lachen vernehmen ließ, entging es Oliver nicht, daß sich manchmal eine ungewohnte Zurückhaltung bei den beiden jungen Leuten geltend machte. Frau Maylie und ihr Sohn waren oft lange Zeit miteinander eingeschlossen, und mehr als einmal zeigten sich Tränenspuren auf Rosas Gesicht. Als der Doktor den Tag seiner Abreise nach Chertsey festgesetzt hatte, trat es klar zutage, daß etwas vorging, was den Seelenfrieden der jungen Dame und noch eines anderen Menschen beeinträchtigte.

      Als endlich Rosa eines Morgens im Wohnzimmer allein war, trat Harry ein und bat mit stockender Stimme um die Erlaubnis, sie einige Augenblicke ungestört sprechen zu dürfen.

      „Wenige – sehr wenige – werden genügen, Rosa. Was ich dir zu sagen habe, weißt du bereits. Die größten Hoffnungen meines Lebens sind dir nicht unbekannt, obgleich sie noch nie über meine Lippen gekommen sind.“

      Rosa war bei seinem Eintreten blaß geworden, was vielleicht noch eine Nachwirkung der Krankheit war. Sie nickte zustimmend, beugte sich über einige Blumen, die in ihrer Nähe standen, und wartete schweigend darauf, daß er anfangen würde.

      „Ich – ich hätte schon früher abreisen sollen.“

      „Gewiß, Harry. Verzeihe, daß ich so rede, aber ich wünschte, du hättest es getan.“

      „Die Angst, das einzige Wesen zu verlieren, das mein ein und mein alles ist, hat mich hierhergetrieben. Du warst dem Tode nahe – schwanktest auf der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde.“

      Bei diesen Worten perlten Tränen in den Augen des holden Mädchens.

      „Ein Engel“, fuhr Harry leidenschaftlich fort, „ein Wesen so schön und unschuldig, wie einer von Gottes Engeln, schwebte zwischen Tod und Leben. Rosa! Rosa! zu wissen, daß du entschwändest, keine Hoffnung zu haben, daß du den hienieden Weilenden erhalten bliebest – das waren Gedanken, fast zu schwer, um ertragen werden zu können. Aber sie lasteten Tag und Nacht auf meiner Seele, und denken zu müssen, du könntest dahinscheiden, ohne zu erfahren, wie innig ich dich liebe, das brachte mich dem Wahnsinn nahe. Du genasest wieder, und ich habe dich vom Tode zum Leben zurückkehren sehen, Dank gegen Gott im Herzen.“

      „Ach, wärest du doch abgereist, um dich deinen edlen Bestrebungen, die deiner so würdig sind, wieder ganz zu widmen“, erwiderte Rosa unter Tränen.

      „Es gibt kein Streben, das meiner würdiger wäre als das Ringen um ein Herz wie das deinige.“ Er ergriff ihre Hand und fuhr leidenschaftlich fort: „Rosa, liebe Rosa, ich habe dich seit Jahren geliebt. Ich hoffte mir Ruhm zu gewinnen, um dann stolz heimzukehren und dir zu sagen, daß ich ihm nur nachjagte, um ihn mit dir zu teilen. Die Blütenträume meiner Liebe gaukelten mir diesen glücklichen Augenblick vor. Ich erinnere dich an die stummen Andeutungen, in denen dir schon der Knabe sein Herz geoffenbart hat, und an das Erröten, mit dem du sie aufnahmst. Ich dachte dann auf deine Hand Anspruch zu machen und damit einen längst zwischen uns schweigend geschlossenen Vertrag zu besiegeln. Die Zeit ist noch nicht gekommen, kein Ruhm geerntet, keiner meiner Jugendträume hat sich verwirklicht. Trotzdem biete ich dir mein Herz an – so lange schon das deine – und setze mein alles auf die Antwort, die meinem Antrag von dir zuteil wird!“

      „Dein Handeln war immer gut und edel“, sagte Rosa, den Sturm ihrer Gefühle niederkämpfend, „damit du aber nicht glaubst, ich sei undankbar und gefühllos, so höre meine Antwort.“

      „Wird sie mich auffordern, daß ich mich bemühen soll, dich zu verdienen, teuerste Rosa?“

      „Nein, sie will dich bloß bitten, mich zu vergessen, das heißt nur als Gegenstand deiner Liebe, nicht aber als deine alte, dir herzlich zugetane Gespielin, denn das würde mich sehr kränken. Schau hinaus in die Welt, wieviele Herzen gibt es zu gewinnen, auf die du ebenso stolz sein kannst. Mache mich bei einer anderen Liebe zu deiner Vertrauten, und ich will dir die aufrichtigste und zuverlässigste Freundin sein.“

      Eine Pause folgte, während der Rosa ihr Gesicht mit der einen Hand bedeckte und ihren Tränen freien Lauf ließ. Die andere Hand hielt Harry immer noch fest.

      „Und deine Gründe, Rosa – “ fragte er endlich leise. „Deine Gründe für diese Entscheidung, darf ich sie wissen?“

      „Du hast ein Recht darauf, sie zu erfahren“, erwiderte Rosa, „kannst ihnen aber nichts entgegenhalten, was meinen Entschluß zu ändern vermöchte. Es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muß. Ich schulde es anderen und mir.“

      „Dir?“

      „Ja, Harry, ich bin es mir selbst schuldig. Ein Mädchen ohne Eltern und Vermögen, mit einem Flecken auf seinem Namen, darf der Welt keinen Anlaß zu der Annahme geben, sie hätte aus niedrigen Beweggründen deiner ersten Leidenschaft nachgegeben und dadurch wie ein Bleigewicht deinen Aufstieg gehemmt. Ich habe gegen dich und die Deinen die Verpflichtung, es zu verhindern, daß du, durch dein edles Herz getrieben, deiner Laufbahn eine solche Belastung aussetzt.“

      „Wenn deine Neigungen mit diesem Pflichtgefühle im Einklang stehen – –“ sagte Harry.

      „Das ist nicht der Fall“, versetzte Rosa, tief errötend.

      „So erwiderst du also meine Liebe?“ rief Harry, „sage nur das, Rosa, sage nur das, und lindere meinen Schmerz und meine Enttäuschung!“

      „Wenn

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