Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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„Nun“, sagte das Männchen, „was soll das bedeuten, daß Sie so gewaltsam in mein Haus eindringen? Wollen Sie mich berauben – oder ermorden?“
„Hast du jemals gehört, daß man in dieser Absicht im Wagen vorgefahren kommt und sich Zeugen mitbringt, du alter Idiot?“ brüllte der nervöse Doktor.
„Zum Teufel, was wollen Sie denn sonst?“ fragte der Bucklige heftig. „Wenn Sie sich nicht augenblicklich rausscheren, gibt’s ein Unglück.“
„Ich werde gehen, wenn es mir paßt“, sagte Losberne und guckte in ein anderes Zimmer. Es hatte aber auch keine Ähnlichkeit mit dem von Oliver beschriebenen. „Ich werde schon einmal dahinterkommen, Freundchen!“
„So – wirklich?“ höhnte der bucklige Krüppel. „Ich bin immer hier zu finden, wenn Sie mich suchen. Ich habe in diesem Hause fünfundzwanzig Jahre lang, und von den Leuten als Verrückter gemieden, gelebt. Ich laß mich von Ihnen nicht schikanieren. Dafür sollen Sie mir büßen.“ Er schrie und brüllte in höchster Wut wie ein Wahnsinniger.
„Dumme Sache“, murmelte der Doktor, „der Junge muß sich getäuscht haben. – Hier – steckt das ein und haltet’s Maul.“ Er warf dem Buckligen ein Geldstück zu und ging zum Wagen zurück.
Das kleine Männchen folgte ihm unter gräßlichen Flüchen und Verwünschungen an den Wagenschlag und warf auf Oliver voller Haß und Wut einen Blick, der den armen Jungen im Wachen und Träumen noch monatelang verfolgte. Das Herumtoben hörte gar nicht auf, und noch aus der Entfernung konnte man das kleine Scheusal schreien hören und sich die Haare raufen sehen.
„Ich bin ein Esel“, sagte der Doktor nach einer langen Pause. „Wußtest du das schon vorher, Oliver“
„Nein, Herr Doktor!“
„Dann merke es dir für ein andermal.“
„Ein Esel!“ wiederholte Herr Losberne nach einer weiteren Pause. „Selbst wenn es das richtige Haus war und die Verbrecher drin, was hätte ich als einzelner machen können? Und hätte ich auch ausreichenden Beistand gehabt, hätte es mir doch nichts genützt. Im Gegenteil, die ganze Geschichte, welche ich vertuschen wollte, wäre ans Tageslicht gekommen. Wäre mir aber ganz recht geschehen, ich bringe mich immer von einer Patsche in die andere durch mein unbeherrschtes Wesen. So hätte es nur als Warnung dienen können.“
Der treffliche Doktor hatte sein ganzes Leben lang nie anders als nach den Eingebungen des Augenblicks gehandelt. Es gereichte aber seinem Herzen, aus dem sie kamen, nicht zur Unehre, daß er sich dadurch die Liebe und Achtung aller derjenigen erwarb, die ihn kannten. Um die Wahrheit zu gestehen, er war darüber ärgerlich, daß es ihm bei dieser Gelegenheit nicht gelungen war, einen überzeugenden Beweis für die Richtigkeit von Olivers Erzählungen zu erhalten. Doch die Verstimmung währte nicht lange, und da Olivers Antworten auf seine Fragen klar und bestimmt gegeben wurden und den früheren auch nicht widersprachen, so nahm er sich vor, ihnen in Zukunft vollen Glauben zu schenken.
Da Oliver den Namen der Straße kannte, in der Herr Brownlow wohnte, so bedurfte es keiner weiteren Nachfrage. Als die Kutsche um die Ecke bog, und Oliver das Haus sah, schlug sein Herz zum Zerspringen.
„Nun, wo ist’s?“ fragte Herr Losberne.
„Dort, das weiße Gebäude“, erwiderte der Junge, hastig aus dem Fenster zeigend. „Ach, lassen Sie schnell fahren, es ist mir, als müßte ich vergehen. Ich zittere am ganzen Leibe.“
„Beruhige dich, Junge“, sagte der Doktor und klopfte Oliver beschwichtigend auf die Schultern. „Gleich bist du da, und sie werden mächtig erfreut sein, dich gesund und munter wiederzusehen.“
„Ach, das hoffe ich auch. Sie waren so gut, so furchtbar gut zu mir.“
Die Kutsche rollte weiter. Sie hielt nun. – Nein, das war nicht das rechte Haus – das nächste. Man fuhr weiter und machte abermals halt. Oliver sah aus dem Fenster, und Tränen der Freude rollten ihm über die Backen.
Aber ach, das Haus war leer. Am Fenster klebte ein Zettel mit der Aufschrift. Zu vermieten!
„Wir wollen im nächsten Haus fragen“, rief der Doktor, Oliver am Arm nehmend. – „Können Sie uns nicht sagen, was aus Herrn Brownlow geworden ist, der nebenan gewohnt hat?“
Das Dienstmädchen wußte es nicht, wollte aber fragen gehen. Sie kam schnell wieder zurück und sagte, Herr Brownlow hätte alle seine Besitzungen verkauft und wäre vor sechs Wochen nach Westindien gegangen. Oliver rang die Hände und taumelte zurück.
„Hat er seine Hausdame auch mitgenommen?“ fragte Herr Losberne nach kurzer Pause.
„Ja“, antwortete das Mädchen. „Der alte Herr, die Hausdame und ein Freund von Herrn Brownlow – alle reisten miteinander.“
„Also wieder nach Hause“, rief der Doktor dem Kutscher zu. „Die Pferde können Sie füttern, wenn wir dieses verfluchte London erst mal im Rücken haben!“
„Wollen wir nicht zu dem Buchhändler, ich kenne den Weg. Besuchen Sie ihn doch“, bat Oliver.
„Lieber Junge, wir haben heute genug Enttäuschungen erlebt“, sagte der Doktor. „Für uns beide gerade hinreichend. Wenn wir zu dem Buchhändler führen, würden wir sicher hören, er sei tot oder weggelaufen oder hätte sein Haus angezündet. Nein, nein wir fahren nach Hause.“
Dieses Mißgeschick verursachte Oliver inmitten seines Glückes vielen Kummer. Hatte es ihm doch während seiner Krankheit manche frohe Stunde bereitet, wenn er sich ausmalte, wie sich Herr Brownlow und Frau Bedwin freuen würden, ihn wiederzusehen. Auch hatte die Hoffnung, sich ihnen gegenüber rechtfertigen zu können, ihn in seinen neuen ihm auferlegten Prüfungen aufrecht erhalten. Er erlag fast dem Gedanken, daß sie so weit fortgezogen seien mit dem Glauben, er wäre ein Betrüger und Dieb – einem Glauben, den ihnen zu nehmen, er vielleicht bis zu seinem Tode nicht imstande war.
Das Benehmen seiner Wohltäter gegen ihn blieb unverändert freundlich. Als nach vierzehn Tagen schönes, warmes Wetter einzutreten begann, und Sträucher und Bäume sich in frisches Grün kleideten, traf man Anstalten, die Villa in Chertsey auf einige Monate zu verlassen. Das Silberzeug, welches die Habgier des Juden so erregt hatte, wurde der Bank in Verwahrung gegeben, und die Bewachung des Hauses Giles und einem anderen Diener anvertraut. Dann reisten die Damen aufs Land und nahmen Oliver mit.
Der neue Aufenthalt unserer Familie war ein ungemein liebliches Fleckchen Erde, und für Oliver, der bisher seine Tage fast immer in dumpfigen Räumen zugebracht hatte, schien ein neues Leben zu erblühen. Rosen und Geißblatt umrankten die Wände des Häuschens. Efeu kroch um die Stämme der Bäume, und die Blumen des Gartens erfüllten die Luft mit ihrem Duft. In der Nähe befand sich ein kleiner Gottesacker, unter dessen niedrigen Rasenhügeln die alten Leute des Dorfes ihren letzten Schlaf schliefen. Oliver machte hierher oft seinen Spaziergang, setzte sich manchmal, wenn er des ärmlichen Grabes seiner Mutter gedachte, an einem der Hügel nieder und schaffte seinem Herzen durch Tränen Erleichterung.
Es war eine glückliche Zeit. Froh und heiter entschwanden ihm die Tage, und die Nächte brachten ihm nur freundliche Träume. Alle Morgen besuchte er einen in der Nähe der kleinen Kirche wohnenden alten Herrn im Silberhaar, der ihn besser lesen und schreiben lehrte und sich so große Mühe mit ihm gab, daß Oliver alles aufbot, um ihm recht viel Freude zu machen. Dann ging er mit Frau Maylie oder Rosa spazieren, oder saß