Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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„Danke. übrigens, da fällt mir ein, daß ich Ihnen noch etwas von Ihrer Herrschaft zu bestellen habe, was ich am Tage, als ich so schnell fort mußte, nicht mehr ausführen konnte. Kommen Sie mal bitte mit mir in jene Ecke!“
Herr Giles begab sich mit dem Doktor dahin und nach einem kurzen Geflüster ging er unter vielen Verbeugungen aus dem Zimmer. Der Gegenstand des Gespräches wurde im Zimmer weiter nicht erörtert, aber ohne Verzug in der Küche ausposaunt. Denn Herr Giles begab sich sofort dahin, ließ sich ein Glas Bier geben und verkündete mit großer Feierlichkeit, die ihren Eindruck nicht verfehlte, daß es der gnädigen Frau gefallen habe, die Summe von fünfundzwanzig Pfund für ihn bei der städtischen Sparkasse einzuzahlen. Als Anerkennung für sein mutiges Benehmen bei dem Einbruch. Auf diese Mitteilung erhoben die Köchin und das Dienstmädchen Augen und Hände und meinten, Herr Giles werde wohl nun anfangen, mächtig stolz zu werden, worauf dieser, an seiner Halsschleife zupfend, erwiderte, das sei ausgeschlossen. Er würde ihnen danken, wenn sie ihn dann darauf aufmerksam machten, falls er sich einmal hochmütig gegen Untergebene gäbe.
Oben verging der Abend in heiterster Stimmung, denn Herr Losberne war äußerst gut gelaunt; und wie ermüdet und nachdenklich Harry Maylie auch anfangs sein mochte, so konnte er doch dem Humor des Doktors nicht widerstehen. Dieser gab eine Anzahl von lustigen Erlebnissen aus seiner Praxis zum besten, und Oliver glaubte, nie etwas Drolligeres gehört zu haben. So mußte er zur großen Freude des Doktors fortwährend lachen, und dieser lachte mit. Da Lachen ansteckend wirkt, so stimmte schließlich auch Harry in das allgemeine Gelächter ein. Kurz, die Gesellschaft war so vergnügt, als sie den Umständen nach sein konnte. Es war bereits spät, als man sich trennte und zur Ruhe ging, deren sie alle nach den Aufregungen der letzten Tage so sehr bedurften.
Oliver stand am anderen Morgen viel fröhlicher auf und ging mit größerer Lust an seine gewöhnliche Beschäftigung als sonst. Er pflückte die schönsten Blumen des Feldes, um Rosa eine Freude zu bereiten. Die Melancholie, die von ihm Besitz genommen hatte, war wie durch Zauberei verschwunden. Der Tau schien ihm blendender im Grase zu funkeln und der Himmel im herrlicheren Blau zu leuchten. Solchen Einfluß übt unsere Stimmung auf Außendinge. Die Menschen, die in der Natur und an ihren Nächsten alles trübe und düster sehen, haben recht; aber diese dunklen Farben sind nur der Widerschein ihrer kranken Seele.
Oliver brauchte seine Morgenspaziergänge nicht mehr allein zu machen. Nachdem Harry Maylie ihn am ersten Tage mit seiner Ladung hatte heimkehren sehen, faßte der junge Mann eine solche Leidenschaft für Blumen und entwickelte einen so feinen Geschmack in der Anordnung derselben, daß er seinen jungen Freund weit hinter sich ließ. Mochte aber Oliver in dieser Hinsicht im Nachteil sein, so wußte er dafür die Stellen, wo die schönsten zu finden waren. Alle Morgen durchstreiften sie miteinander die Umgegend und brachten stets das Schönste, was auf den Feldern und Wiesen stand, nach Hause.
Die Fenster in Rosas Zimmer wurden jetzt weit geöffnet, denn die duftige Sonnenluft tat der Patientin wohl. In einem Fenster stand jeden Morgen ein frischer Blumenstrauß, und es entging Oliver nicht, daß die welken Blumen nie weggeworfen wurden. Er bemerkte auch, daß der Doktor, wenn er in den Garten kam, stets nach dem Fenster guckte und bedeutsam mit dem Kopfe nickte. So verflossen die Tage schnell, und Rosa erholte sich wieder vollständig.
Auch auf Oliver lastete die Zeit nicht schwer, obgleich die junge Dame noch immer das Zimmer nicht verlassen durfte und von Abendspaziergängen keine Rede war, ausgenommen dann und wann ganz kurze mit Frau Maylie. Er verdoppelte seinen Fleiß in den Unterrichtsstunden des silberlockigen alten Herrn und war über seine schnellen Fortschritte selbst erstaunt. Da wurde er eines Tages durch einen unerwarteten Vorfall aufs äußerste erschreckt.
Das kleine Zimmer, in dem er bei seinen Schularbeiten saß, war im Erdgeschoß, nach hinten hinaus. Man hatte von ihm die Aussicht auf den Garten, aus dem ein Pförtchen nach einem eingezäunten Rasenplatz führte. Jenseits war alles Wiesenland und Buschwerk und so hatte man eine ziemliche weite Rundsicht. An einem schönen Abend, in der Dämmerung, saß Oliver am Fenster, noch eifrig in einem Buche lesend. Da der Tag ziemlich schwül war, überfiel ihn plötzlich eine Müdigkeit, und er schlief über dem Buch ein.
Zuweilen beschleicht uns eine Art Schlummer, die zwar den Leib gefangen hält, aber der Seele die Empfindung für die Außenwelt nicht nimmt. Oliver wußte daher recht gut, daß er in seinem eigenen kleinen Zimmer war – und doch schlief er. Plötzlich trat eine Umwandlung seiner Umgebung ein, die Luft wurde schwül, und er glaubte mit Angst und Schrecken, wieder im Hause des Juden zu sein. Dort saß der abscheuliche Alte in seiner gewohnten Ecke, zeigte auf ihn und flüsterte leise mit einem anderen Mann, der mit abgewandtem Gesicht neben ihm auf einem Stuhle Platz genommen hatte.
„Pst, Freundchen“, glaubte er den alten Juden sagen zu hören, „er ist es, gewiß und wahrhaftig. Komm weg!“
„Glaubt Ihr, ich erkannte ihn nicht?“ schien der andere zu antworten. „Wenn eine Legion von Teufeln seine Gestalt annähme, und er stände mitten unter ihnen, ich würde ihn herausfinden. Verscharrt ihn fünfzig Fuß tief und führt mich über sein Grab, ich würde es wissen, daß er drunten läge, wenn auch kein Merkmal oder sonst ein Zeichen es andeutete!“
Der Mann schien diese Worte in einem so fürchterlichen Tone des Hasses zu sagen, daß Oliver entsetzt auffuhr und erwachte.
Guter Gott! was trieb ihm da auf einmal das Blut so stürmisch zum Herzen und raubte ihm Sprache und Bewegungsfreiheit? Dort – dort – am Fenster – dicht vor ihm, so dicht, daß er ihn fast hätte berühren können, ehe er zurückprallte – mit durchdringenden Blicken ins Zimmer sehend und den seinigen begegnend – dort stand der Jude. Und neben ihm, blaß vor Furcht oder Wut, oder vielleicht beidem, der Mann mit wild verzerrtem Gesicht, mit dem er im Gasthaus des Posthalters zusammengestoßen war.
Doch nur einen Augenblick – dann waren sie verschwunden. Aber er hatte sie und sie ihn erkannt. Er stand eine Sekunde wie vom Blitz getroffen da. Dann sprang er aus dem Fenster in den Garten und rief laut um Hilfe.
Fünfunddreißigstes Kapitel
Enthält das unbefriedigende Ergebnis von Olivers Abenteuern und ein ziemlich wichtiges Gespräch zwischen Harry Maylie und Rosa
Als man auf Olivers Rufen herbeieilte, fand man ihn blaß und zitternd dastehen. Er zeigte nach der Wiese hinter dem Garten und konnte nur mühsam die Worte hervorbringen: „Der Jude – der Jude!“
Herr Giles konnte aus diesem Ausruf nicht klug werden. Aber Harry Maylie, dessen Auffassungsgabe schneller war und der obendrein Olivers Geschichte von seiner Mutter gehört hatte, begriff sofort.
„Welche Richtung hat er eingeschlagen?“ fragte er und nahm einen Knüppel auf, der zufällig da herumlag.
„Dorthin“, erwiderte Oliver, den Weg andeutend, den die Männer genommen hatten. „Ich habe sie eben erst aus den Augen verloren.“
„Dann sind sie im Graben“, sagte Harry. „Folgt und haltet euch dicht an mir!“
Mit diesen Worten sprang er über die Hecke und schoß wie ein Pfeil dahin, so daß die anderen Mühe hatten nachzukommen.
Giles und Oliver rannten ihm nach, so schnell sie konnten, und einige Minuten später setzte Herr Losberne, der gerade von einem Spaziergange heimkehrte – allerdings etwas ungeschickt – ebenfalls über die Hecke und strauchelte. Er raffte sich aber schneller, als man von ihm erwartet hätte, wieder auf und stürmte den übrigen mit langen Schritten nach. Dabei brüllte er mit mächtiger Stimme, fragend, was denn los sei. So ging’s immer weiter, und keiner hielt inne, um neuen Atem