Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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„Ja“, bestätigte sie, „doch“, fuhr sie fort und zog ihre Hand aus der seinigen, „warum wollen wir dieses peinliche Gespräch fortsetzen? Peinlich, und mich doch so beseligend. Ja, zu wissen, daß ich von dir geliebt wurde, wird mir stets eine Quelle hohen Glückes sein. Lebe wohl, Harry, denn so wie wir uns heute gegenüberstanden, wird es nie mehr der Fall sein; und so möge dich mein Segen begleiten.“
„Noch ein Wort, Rosa! Deine Gründe – ich möchte sie aus deinem eigenen Munde hören.“
„Die schönsten Aussichten stehen dir offen, alle Ehren sind dir erreichbar, die durch Talent und einflußreiche Verbindungen errungen werden können. Aber deine Verwandten und Gönner sind stolz, und ich will mich nicht in ihre Kreise drängen, zumal sie meine Mutter verachten, die mir das Leben gab. Ich will auch nicht Unehre über den Sohn derjenigen bringen, die an mir Mutterstelle vertreten hat. Mit einem Worte“, – und dabei wandte sie sich ab, um ihre Rührung zu verbergen – „es haftet ein Makel auf meinem Namen, und der soll nicht auf einen anderen übergehen. Der Fluch soll mich allein treffen.“
„Ach, nur noch ein – nur noch ein einziges Wort, teuerste Rosa!“ rief Harry und warf sich ihr zu Füßen. „Wäre ich – im Sinne der Welt – weniger vom Glück begünstigt – wäre kein glänzendes, sondern ein unbeachtetes Leben mein Los – wäre ich arm, krank, hilflos – würdest du mich auch dann abweisen, oder kommen dir die Bedenken nur wegen meiner vermuteten Aussicht auf eine ehrenreiche Laufbahn?“
„Dränge mich nicht zu einer Antwort. Von einer solchen Frage ist – und wird nie die Rede sein. Es ist nicht hübsch von dir, mir solche Gewissensfragen zu stellen!“
„Wenn deine Antwort lautete, wie ich fast zu hoffen wage, so wird sie einen beglückenden Hoffnungsstrahl auf meinen einsamen Weg werfen und die düstere Bahn vor mir erhellen. Hältst du es denn nicht der Mühe für wert, durch das Aussprechen einiger weniger Worte soviel für einen zu tun, der dich über alles liebt? Ach, Rosa, ich beschwöre dich bei meiner heißen, unvergänglichen Liebe, bei allem, was ich für dich gelitten habe, und was ich um deiner Entscheidung willen noch leiden soll – beantworte mir nur diese einzige Frage!“
„Nun denn, wenn dir ein anderes Los beschieden gewesen wäre – wenn du nur ein wenig und nicht gar so hoch über mir ständest, wenn ich dir in einer bescheidenen, zufriedenen und unabhängigen Stellung eine Kameradin sein könnte und nicht befürchten müßte, stets als ein Hindernis für dein Streben angesehen zu werden, so wäre uns wohl diese harte Prüfung erspart geblieben. Ich habe jetzt alle Ursache glücklich, ja, sehr glücklich zu sein; aber dann, Harry – ich gestehe es – dann hätte mein Glück keine Grenzen gekannt.“
Mächtige Erinnerungsbilder tauchten vor Rosa auf, während sie dies Eingeständnis machte, aber sie brachten auch Tränen mit sich, in denen sie jedoch Erleichterung fand.
„Ich kann meiner Schwäche nicht wehren, aber sie wird mich in meinem Entschluß nicht wankend machen“, sagte Rosa und reichte ihm ihre Hand hin. „Doch jetzt muß ich dich verlassen.“
„Versprich mir eines“, erwiderte Harry, „gestatte mir noch ein einziges Mal – in einem Jahre oder lieber noch früher – ein letztes Mal über diese Sache mit dir zu sprechen!“
„Willst du mich etwa dann drängen, meinen unabänderlichen Entschluß umzustoßen?“ sagte sie mit wehmütigem Lächeln. „Es würde nutzlos sein.“
„Nein, um dich ihn wiederholen zu hören, falls es dir beliebt. Ich will dir meine Stellung und alles, was ich dann habe, zu Füßen legen, und wenn du bei deiner heutigen Abweisung beharrst, so will ich mich fügen.“
„Gut, es sei so. Es ist nur ein Schmerz mehr, und ich bin vielleicht dann imstande, ihn leichter zu tragen!“
Sie reichte ihm noch einmal die Hand. Harry aber schloß das Mädchen in seine Arme und drückte einen Kuß auf ihre reine Stirn, dann eilte er hinaus.
Sechsunddreißigstes Kapitel
Ist zwar sehr kurz und erscheint hier vielleicht als nicht besonders wichtig, sollte aber doch gelesen werden, weil es eine Ergänzung des vorhergehenden ist und ein Schlüssel zu einem späteren
„Sie sind also entschlossen, heute mein Reisegefährte zu sein, wie?“ fragte der Doktor, als er mit Harry und Oliver beim Frühstück saß. „Es scheint, ihre Entschlüsse wechseln mit jeder halben Stunde!“
„Sie werden bald anders von mir denken“, entgegnete Harry, ohne erkennbaren Grund rot werdend.
„Das würde mir lieb sein“, sagte Herr Losberne, „obgleich ich gestehen muß, daß ich es bezweifle. Gestern morgen setzten Sie sich in den Kopf, hierzubleiben und als gehorsamer Sohn Ihre Mutter an die See zu begleiten. Es war noch nicht Mittag, als Sie mir mitteilten, Sie wollten mir die Ehre Ihrer Gesellschaft bis London schenken. Abends dringen Sie ganz geheimnisvoll in mich, ich solle abreisen, ehe die Damen aufständen. Die Folge davon ist, daß der kleine Oliver am Frühstückstisch sitzen muß, anstatt botanisieren gehen zu können. Das ist doch arg – nicht wahr, Oliver?“
„Es hätte mir sehr leid getan, Herr Doktor, wenn Ich bei Ihrer und Herrn Maylies Abreise nicht zugegen gewesen wäre“, erwiderte Oliver.
„Du bist ein guter Junge. Mußt mich auch mal besuchen, wenn ihr wieder zurück seid. Aber Spaß beiseite, hat irgendeine Mitteilung der Bonzen in der Regierung Sie zu dieser schleunigen Abreise veranlaßt?“
„Die Bonzen, zu denen Sie wohl auch meinen Onkel zählen, haben mir nichts sagen lassen, solange ich hier bin. Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß sich in dieser Jahreszeit etwas ereignet, was meine dortige Anwesenheit erforderlich macht!“
„Sie sind ein schnurriger Kerl“, meinte Herr Losberne. „Man wird Sie aber wahrscheinlich bei der Weihnachtswahl ins Parlament bringen wollen, und dieses plötzliche Ändern der Entschlüsse ist keine schlechte Vorbereitung für das politische Leben.“
Harry machte Miene, ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, er begnügte sich jedoch mit der Bemerkung: „Wir werden sehen!“ und ließ den Gegenstand fallen. Die Postkutsche fuhr kurz darauf vor, und als Giles kam, um das Gepäck zu holen, eilte der Doktor hinaus, um die Unterbringung desselben zu überwachen.
„Oliver“, sagte Harry leise, „ich muß noch ein paar Worte mit dir reden.“
Der Junge trat zu ihm ans Fenster, verwundert über Harrys Traurigkeit und Unruhe.
„Du kannst jetzt gut schreiben“, sagte Harry und legte die Hand auf Olivers Arm.
„Ich denke doch.“
„Ich komme vielleicht auf einige Zeit nicht wieder nach Hause und wünsche, daß du mir schreibst – so alle vierzehn Tage. Willst du das?“ fragte Herr Maylie.
„Gern, ich bin stolz darauf, daß ich es tun darf“, sagte der Junge, ganz erfreut über diesen Auftrag.
„Es wäre mir lieb, zu erfahren, wie – wie es meiner Mutter und Fräulein Rosa geht. Du kannst daher einen ganzen Bogen voll schreiben und mir erzählen, was ihr für Spaziergänge macht, wovon ihr sprecht, und ob sie – ja, ich meine sie beide – , ob sie heiter und zufrieden sind. Verstehst du?“
„Vollkommen“, antwortete Oliver.
„Du brauchst ihnen übrigens nichts davon zu sagen“,