Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens
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„Ich glaubte ein Geräusch zu hören“, fuhr Herr Giles fort, „doch sagte ich mir anfangs, es sei eine Täuschung. Gerade schickte ich mich an, wieder einzuschlafen, als ich das Geräusch aufs neue und deutlicher vernahm.“
„Was war es denn für ein Geräusch?“ fragte die Köchin.
„So eine Art von knarrendem Geräusch“, antwortete Herr Giles.
„Ich meine, es hörte sich eher so an, als wenn man eine Eisenstange über ein Reibeisen zieht“, sagte Brittles.
„So war es, als du es hörtest“, versetzte Herr Giles, „aber damals hatte es einen knarrenden Ton. Ich warf die Bettdecke ab, setzte mich im Bette auf und horchte.“
„Ach, du lieber Himmel“, riefen die Köchin und das Hausmädchen gleichzeitig und rückten mit den Stühlen näher zusammen.
„Ich hörte es jetzt ganz deutlich“, fuhr Herr Giles fort, „und sagte mir: da will jemand einbrechen; was tun? Zuerst den armen Jungen, den Brittles, wecken, damit er nicht im Bett umgebracht oder ihm die Kehle durchgeschnitten wird, ohne daß er es merkt.“
Hier richteten sich aller Blicke auf Brittles, der den Erzähler mit offenem Munde anstarrte, während sich auf seinem Gesicht Entsetzen malte.
„Ich warf also die Bettdecke beiseite“, berichtete Herr Giles weiter, und er nahm dasselbe Manöver mit dem Tischtuch vor, „stand leise auf, zog meine –“
„Es sind Damen anwesend, Herr Giles“, flüsterte ihm der Kesselflicker zu.
„ – Schuhe an“, fuhr Giles mit großem Nachdruck fort und sah den Unterbrecher groß an, „langte nach der geladenen Pistole, die mit dem Silberzeugkasten immer heraufgebracht wird, und schlich auf den Zehen zu seiner Kammer. Als ich ihn weckte, sprach ich: ‚Brittles, erschrick nicht‘.“
„Ja, so sagten Sie“, bemerkte dieser leise.
„Wir sind verloren, aber hab keine Angst, Brittles!“
„War er erschrocken?“ fragte die Köchin.
„Nicht im geringsten“, erwiderte Herr Giles. „Er war so mutig – fast so unverzagt wie ich!“
„Wenn mir das passiert wäre, ich wäre auf der Stelle gestorben“, meinte das Hausmädchen.
„Sie sind eben ein Weib“, sagte Brittles, der den tapferen Helden herausbiß.
„Brittles hat recht“, sagte Herr Giles mit beifälligem Kopfnicken, „von Weibern läßt sich nichts anderes erwarten. Wir aber, als Männer, nahmen Brittles Laterne und tappten in der stockfinsteren Nacht die Treppe hinunter – ungefähr so.“
Herr Giles war von seinem Stuhl aufgestanden und, um seine Schilderung durch geeignete Mimik zu beleben, mit geschlossenen Augen einige Schritte vorwärts gegangen. Plötzlich fuhr er sowohl, als auch die übrige Gesellschaft heftig zusammen und eilte zu seinem Stuhle zurück. Die Köchin und das Hausmädchen kreischten.
„Man hat an die Haustür geklopft“, sagte Herr Giles, „jemand muß öffnen gehen.“
Niemand rührte sich.
„Es ist doch komisch, daß man am frühen Morgen schon Einlaß begehrt“, meinte Herr Giles, leichenblaß im Gesicht. „Aber die Tür muß aufgemacht werden. Jemand muß öffnen! Hört ihr nicht?“
Er sah bei diesen Worten Brittles an, dieser schien sich aber aus Bescheidenheit nicht als „Jemand“ zu betrachten. Er gab jedenfalls keine Antwort. Herr Giles heftete seinen Blick nun fragend auf den Kesselflicker, aber dieser war plötzlich eingeschlafen, und von dem weiblichen Personal konnte von vornherein natürlich nicht die Rede sein.
„Wenn Brittles die Tür lieber in Gegenwart von Zeugen öffnen will“, meinte Giles nach kurzem Schweigen, „so will ich gern mitgehen.“
„Ich auch“, fügte der Kesselflicker hinzu, der ebenso schnell wieder, aufwachte, als er eingeschlafen war.
Auf diese Bedingungen hin kapitulierte Brittles, und als man beim Öffnen der Fensterläden sah, daß es heller Tag sei, ging die ganze Gesellschaft mit den Hunden die Treppe hinunter, wobei die Weiber die Nachhut bildeten. Herr Giles riet, den Hunden in die Schwänze zu kneifen, damit sie recht wütend bellten und dadurch einem draußenstehenden Feinde Angst und Schrecken einjagten. Dann faßte er den Kesselflicker fest am Arm, damit dieser nicht ausrücke, wie er scherzend sagte, und befahl nun die Tür zu öffnen. Brittles gehorchte, ängstlich sah einer dem andern über die Schulter, aber nichts Verdächtiges war zu sehen. Nur der kleine Oliver Twist lag da, erschöpft und blaß, und schlug die Augen stumm um Mitleid flehend auf.
„Ein Junge!“ rief Herr Giles und drängte den Kesselflicker mutig zurück. „Was ist mit ihm los? Sieh mal, Brittles, erkennst du ihn?“
Dieser stieß, als er Oliver erkannte, einen lauten Schrei aus. Herr Giles ergriff den Jungen bei einem Arme und einem Beine – zum Glück nicht bei dem verwundeten – und zog ihn in den Hausflur.
„Hier ist er!“ schrie Herr Giles mächtig aufgeregt die Treppe hinauf. „Hier ist einer der Diebe, gnädige Frau! Wir haben einen Spitzbuben erwischt, gnädiges Fräulein! Er ist verwundet, ich habe ihn getroffen.“
Die Köchin und das Hausmädchen eilten die Treppe hinan, um die Nachricht zu hinterbringen, daß Herr Giles einen Einbrecher gefangen habe. Der Kesselflicker gab sich inzwischen die größte Mühe, Oliver wieder zu sich zu bringen, damit er nicht stürbe, bevor er gehängt würde. – Durch diesen Lärm ließ sich jetzt eine sanfte weibliche Stimme vernehmen, die sofort dem Tumult ein Ende machte. „Giles!“
„Hier bin ich, gnädiges Fräulein. Erschrecken Sie nicht, ich bin nicht zu Schaden gekommen. Er leistete keinen besonders starken Widerstand.“
„Pst!“ machte die junge Dame, „nicht so laut. Ist der arme Mensch schwer verwundet?“
„Sehr schwer, gnädiges Fräulein“, erwiderte Giles selbstgefällig.
„Es sieht so aus, als ob es mit ihm zu Ende ginge, gnädiges Fräulein“, brüllte Brittles nach oben. „Wollen Sie nicht herunterkommen und ihn ansehen, falls er – “
„Aber schreien Sie doch nicht so entsetzlich“, sagte die junge Dame, „ich werde mit meiner Tante sprechen.“
Sie eilte leichtfüßig weg und kehrte bald wieder mit dem Befehl zurück, den Verwundeten auf Herrn Giles Zimmer zu tragen. Brittles aber sollte nach Chertsey reiten und so schnell wie möglich einen Polizisten und einen Arzt holen.
„Wollen Sie nicht mal einen Blick auf ihn werfen, gnädiges Fräulein?“ fragte Giles stolz, als wenn Oliver ein seltener Vogel wäre, den er dank seiner Geschicklichkeit erlegt hatte.
„Jetzt nicht, nicht um alles in der Welt. Armer Kerl! Behandeln Sie ihn gut, Giles – um meinetwillen.“
Der alte Diener sah zu der Sprecherin, wie sie sich entfernte, voller Stolz und Bewunderung auf; als wäre sie seine eigene Tochter. Dann beugte er sich über Oliver und