Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
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Paulisten sind es auch, die auf einer ihrer entradas in die völlig unbewohnten Bergtäler von Minas Gerais eindringen und dort im Rio das Velhas das erste Gold finden. Einer der Bandeirantes bringt die Nachricht nach Bahia, ein anderer nach Rio de Janeiro, und sofort setzt von beiden Städten und allen möglichen Orten eine ganze Völkerwanderung in diese unwirtlichen Gebiete ein. Die Plantagenbesitzer treiben ihre Sklaven mit sich, die Zuckerwerke werden verlassen, Soldaten desertieren; in ein paar Jahren entsteht im Goldbezirk ein kleiner Ring von Städten, Vila Rica, Vila Real, Vila Albuquerque mit hunderttausend Einwohnern. Dazu kommt bald darauf die Entdeckung der Diamanten. Mit einemmal ist Brasilien die reichste Goldquelle der Welt und der kostbarste Besitz der portugiesischen Krone geworden, die sich von vornherein den Fünftteil an allem gefundenen Gold und jeden Diamanten über zweiundzwanzig Karat gesichert hat.
Die neue Provinz bietet zunächst das Bild eines vollkommenen Chaos. Wie in den ersten Zeiten der Kolonisation fühlen sich in diesen abgelegenen Gebirgstälern, weil noch ohne staatliche Kontrolle, die Eindringlinge jenseits von Recht und Pflicht, und der eingesetzte Gouverneur stößt ebenso wie seinerzeit die Jesuiten – auf entschlossenen Widerstand, sobald er Ordnung und Zucht einführen will. Die »Paulisten« wehren sich gegen die emboabas, die Eindringlinge von der Küste, und es kommt zu verzweifelten Kämpfen, in denen schließlich die königliche Autorität die Oberhand behält. An und für sich ist es nur Habgier, welche die ersten Goldgräber, die den unerwarteten Reichtum mit niemand anderem teilen wollen, zusammenrottet. Aber hinter ihrem eigenmächtigen Widerstand wirkt als höherer Wille schon unbewußt ein nationales Empfinden. Die Paulisten stellen mit diesen ersten Revolten gegen die portugiesische Autorität rein instinktiv die Forderung auf, allerdings noch ohne sie zu formulieren, daß jeder Reichtum der brasilianischen Erde Brasilien gehöre; sie empfinden es als absurd, daß das Gold, das sie – oder vielmehr ihre Sklaven – graben, verwendet werden solle, um tausende Meilen über dem Meer in einem Lande, das sie zeitlebens nie sehen werden, Paläste und gigantische Klöster zu bauen. In gewissem Sinn ist dieser erste, rasch niedergeschlagene Aufstand der Goldgräber gegen die portugiesische Autorität schon das erste Vorspiel des großen Unabhängigkeitskampfes, der in derselben Stadt, an derselben Stelle ein halbes Jahrhundert später seine niedergehaltenen Kräfte neuerdings entladen wird. Denn das Gold als die sichtbarste, münzbarste Wertsubstanz hat Brasilien zum erstenmal das Selbstbewußtsein seines Reichtums gegeben; von der Stunde seiner Entdeckung an betrachtet sich das Land nicht mehr als der Verschuldete und Dankespflichtige gegen sein Ursprungsland, sondern als freies Subjekt, das seine einstige Verpflichtung bereits in hundertfachen Werten an die Heimat zurückerstattet hat.
Im ganzen dauert dieser Goldtaumel nicht länger als fünfzig Jahre. Dann versagt – eine Katastrophe für Portugal – diese kostbare Quelle. Aber immer wiederholt sich in der Geschichte Brasiliens das gleiche merkwürdige Phänomen: was für sein Mutterland, für Portugal, ein Unglück bedeutet, wird für die Kolonie zum Gewinn. Über Portugal bricht, sobald die Goldsendungen ausbleiben, eine Finanzkrise schwerster Art herein, die Pombal nicht bemeistern kann und die im weiteren Verlauf die Austreibung der Jesuiten und seinen eigenen Sturz zur Folge hat: Brasilien wird dagegen eher stabilisiert. Denn durch die Auffindung des Goldes ist eine neue Verschiebung des Gleichgewichts und damit eine erste Konsolidierung in der Menschenverteilung Brasiliens eingetreten. Abermals sind große Massen in das bisher schwachbesiedelte Innere verpflanzt worden, und selbst als das Schwemmgold im Sande abgeschöpft ist, ziehen es die einstigen Goldgräber vor, die hier keine Bleibe und auch sonst keine Heimat haben, statt an die Küste zurückzuwandern, in der mata, dem fruchtbaren Tiefland von Minas Gerais, sich anzusiedeln. Damit ist abermals – wie vordem São Paulo – eine Provinz bevölkert und der bisher ungenützte Strom des São Francisco als lebendige Verkehrsader gewonnen. Immer mehr wird Brasilien aus einer bloßen Küste ein wirkliches Reich.
Aber wichtiger als alles gewonnene Gold ist für Brasilien das mächtig erstarkte Gefühl seines eigenen Wertes. Teilweise in Kämpfen wider die von Norden gegen den Maranhão vordringenden Franzosen, teilweise durch kühne Streifung ins Unbekannte und fortschreitende Besiedlung des Westens, hat sich die Bevölkerung aus eigener Kraft das Flußgebiet des Amazonas, Mato Grosso, Goiaz, Rio Grande do Sul und eine Reihe anderer Provinzen gewonnen, deren jede einzelne räumlich so groß oder größer ist als die allmächtigen europäischen Staaten, wie Spanien und Frankreich und Deutschland; zu einer Zeit, da das gleiche umfangreiche Nordamerika kaum ein Sechstel seines Bodens kennt, hat Brasilien sich bis nahe zu den heutigen Grenzen ausgebreitet, und längst ist das eigene kleine Mutterland kein Maßstab mehr, denn eingezeichnet in die immensen Gemarkungen Brasiliens, erscheint Portugal klein wie ein Tintenfleck auf einem riesigen Tuch. Wie dann 1750 im Vertrag von Madrid endgültig die Grenzen der Kolonie gegen die spanischen festgesetzt werden sollen, muß Spanien ärgerlich anerkennen, daß Brasilien längst nicht mehr auf die veralteten Linien des Vertrags von Tordesillas zurückgeschoben werden könne und durch das stärkere Recht seiner kolonialen Leistung alle papierenen Paragraphen zunichte gemacht hat. Langsam beginnt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts Europa, beginnt das Land selbst zu begreifen, wie groß, wie mächtig, wie einheitlich es in den scheinbar ereignislosen Jahren auf seine stille, beharrliche Art geworden ist. Und je mehr es seiner Kindheit, seiner finanziellen Abhängigkeit entwächst, um so mehr muß es als Ungehörigkeit und Ungerechtigkeit empfinden, daß seine freie Entwicklung durch die unpolitische und überdies ungeschickte Vormundschaft Portugals immer noch in kleinlicher Weise gehemmt wird.
Denn um möglichst viel Gewinn aus seiner Kolonie herauszuholen, umstrickt die portugiesische Krone Brasilien mit einem Netzwerk von Gesetzen, das dem jungen Land die von Kraft strotzenden Adern vom Welthandel abbindet; die Regierung erlaubt zum Beispiel gerade dem Lande, wo die Baumwolle frei und üppig ihre Heimat hat, keine eigene Fabrikation von Textilwaren, um Brasilien zu zwingen, die Fertigware von Lissabon zu bestellen, und derartige Verbote häufen sich bis ins Willkürliche und Stupide. So wird 1775 durch ein Dekret verboten, Seife zu erzeugen, es wird verboten, heimischen Alkohol zu keltern, um die Konsumenten zu nötigen, mehr portugiesischen Wein zu trinken. Der Gouverneur weigert sich, in seinem Palast jemanden zu empfangen, der nicht aus portugiesischen Stoffen gefertigte Kleider trägt. Einem Lande, das schon zweieinhalb Millionen Einwohner besitzt, wird untersagt, Reis anzupflanzen, im Jahrhundert der Philosophie und Aufklärung seinen Städten nicht der Druck von Zeitungen und nicht einmal von Büchern erlaubt, kein Brasilianer darf ein fremdes Schiff kaufen, kein Ausländer in Rio leben und kaum einer dort landen. Brasilien wird abgesperrt wie der Privatgarten des Königs von Portugal. Selbst im neunzehnten Jahrhundert wird noch, als Humboldt für seine großartige Schilderung, die Brasilien erst wahrhaft für die Welt entdeckt, das Land bereisen will, den Behörden vertraulicher Befehl erteilt, wenn ein certain baron Humboldt sich einstelle, ihm die möglichsten Schwierigkeiten zu bereiten.
So ist es leicht zu begreifen, mit welcher leidenschaftlichen Aufmerksamkeit die Brasilianer den Unabhängigkeitskampf Nordamerikas verfolgen, das von einer viel milderen und klügeren Hüterschaft sich gewaltsam losreißt und seine Freiheit erzwingt. Die früheren Former und Meister ihrer Lebensform, die Jesuiten, die im Lande immer unbeliebter wurden, je mehr sich ihre Organisation ins Kommerzielle und Geschäftliche wandte und mit den einheimischen Kolonisten konkurrierte, haben auf Befehl Pombals das Land verlassen müssen, aber damit ist den Brasilianern keineswegs Macht und Recht über ihr eigenes Schicksal gegeben; die Vizekönige verwalten das Land ausschließlich zum Vorteil Portugals und nehmen wenig Anteil an seiner selbständigen Entwicklung. Langsam, heimlich, aber unaufhaltsam bildet sich eine antiportugiesische Partei oder vielmehr eine, die damals noch leicht mit der bloßen Gewährung der Gleichberechtigung und freiem Welthandel zu beschwichtigen wäre. An sich ist der Brasilianer weder radikal noch revolutionär; mit einer leichten und geschickten Hand wäre das Land noch ohne Schwierigkeiten festzuhalten. Aber für seine Wünsche hat man in Lissabon kein Verständnis, und selbst Pombal, der Portugal vergebens zu aufgeklärteren und zeitgemäßeren Anschauungen zu veranlassen suchte, gewährt trotz