Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
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Die Inconfidência ist eine Verschwörung junger Leute und darum eine romantische, mit kühnen Reden und schwungvollen Gedichten, ungeschickt in der Vorbereitung und doch vom Geist der Zeit getragen in ihrer Entschlossenheit. 1788 hatte eine Gruppe junger brasilianischer Studenten an der Universität Montpellier lebhaft die Notwendigkeit einer nationalen Befreiung diskutiert und sogar schon mit Jefferson, dem Pariser Gesandten der Vereinigten Staaten, Fühlung gesucht, um ihrer Sache die Hilfe der nordamerikanischen Republik zu gewinnen. Eine wirkliche Aktion kam nicht zustande, aber die Idee blieb lebendig, und sofort wie einige dieser Studenten dann nach Ouro Preto, der damals geistig regsamsten Stadt, zurückkehrten, formt sich eine revolutionär gesinnte Gruppe unter Führung des aus Coimbra eben eingetroffenen José Álvares Maciel und Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen »Tiradentes« der vielbesungene Held dieser ersten wirklich brasilianischen Freiheitsbewegung geworden ist. Es sind durchwegs Männer geistiger Berufe, die sich in diesen geheimen Konventikeln vereinigen, Ärzte, Dichter, Juristen, Magistratspersonen, dieselbe neuaufsteigende bürgerliche Schicht, die zur gleichen Stunde in Frankreich die Revolution führt – Männer, die gerne diskutieren und sich an Büchern und Ideen begeistern, Männer, die gerne sprechen und diesmal zu viel sprechen. In ihrem Enthusiasmus sehen sich die Verschwörer, noch lange ehe sie die Verschwörung richtig geplant und organisiert haben, schon am Ziel und suchen ungestüm und gutgläubig Freunde für ihr noch durchaus theoretisches Projekt. So kann der Gouverneur, von eingeschmuggelten Spionen ständig informiert, im voraus zuschlagen, ehe sie selbst sich zur Tat entschlossen haben. Die meisten der jungen Leute werden zur Deportation nach Afrika verurteilt, der Dichter Cláudio Manuel da Costa tötet sich im Gefängnis, und nur einer, Joaquim José da Silva Xavier, der »Tiradentes«, der frei und heroisch vor dem Tribunal sich zu seiner Überzeugung bekennt, wird auf die grausamste Weise am 21. Juli 1789 in Rio de Janeiro hingerichtet und die Stücke seines zermarterten Leibs para terrível escarmento dos povos an den Straßenkreuzungen von Minas aufgenagelt. Aber damit ist der Funke der Freiheitsbewegung keineswegs niedergetreten, er glimmt weiter unter der Erde. Zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist Brasilien wie alle seine südamerikanischen Nachbarstaaten von Argentinien bis Venezuela hinauf innerlich schon für den Abfall von Europa bereit und wartet nur noch auf die gegebene Stunde.
Ein Zufall hält diesen Abfall noch um zwei Jahrzehnte auf. Portugal ist in den napoleonischen Kriegen in die schlimmste Lage geraten, die es im Kriege gibt: zwischen Hammer und Amboß. In dem erschöpfenden Ringen der beiden Giganten Napoleon und England wäre das kleine Land naturgemäß gewillt, abseits und neutral zu bleiben.
Aber wenn die Gewalt ein Jahrhundert regiert, ist für Friedwillige kein Raum; sowohl Frankreich, das Portugals Häfen will, als auch England, das sie gegen die Kontinentalsperre benötigt, fordern Entscheidung. Und diese Entscheidung ist fürchterlich verantwortungsvoll für König João VI. Napoleon beherrscht den Kontinent, England beherrscht die See. Widerstrebt der König Napoleons Forderung, so marschiert Napoleon ein, und dann ist Portugal verloren. Widerstrebt er England, so sperrt England das Meer, und er verliert Brasilien. Angesichts dieser unerbittlichen Wahl, ob Lissabon vom Lande aus durch Napoleon oder von der See her von den Engländern bombardiert werden solle, bilden sich am Hof zwei Parteien, die pro-französische und die pro-englische. Der König schwankt, und in seinem Schwanken wird er zum erstenmal bewußt, was Brasilien in drei Jahrhunderten geworden ist: das kostbarste Gut seiner Krone und längst nicht mehr eine bloße Kolonie. Er ahnt, daß es in Hinkunft vielleicht mehr Reichtum, Macht und Weltstellung bedeuten wird, Brasilien sein eigen zu nennen als Portugal; zum erstenmal schwankt in der Waagschale Portugal zu Brasilien gleich zu gleich.
In letzter Stunde fällt das Haus Bragança, als Napoleon 1807 das Ultimatum stellt, ob Portugal für ihn oder gegen ihn sein wolle, die Entscheidung: lieber Lissabon aufgeben, lieber ganz Portugal verlieren als Brasilien. Während Junot in Eilmärschen schon vor den Toren Lissabons angelangt ist, schifft sich die königliche Familie mit fünfzehntausend Personen, dem ganzen Adel, dem Magistrat, den Kirchenleuten, den Generälen und – last but not least – zweihundert Millionen Cruzados hastig ein, überquert unter dem Schutz der englischen Flotte den Ozean. Ein Weltumsturz mußte kommen, damit zum erstenmal in drei Jahrhunderten irgendein Angehöriger des Hauses Bragança und nun sogar sein König in persona den Boden Brasiliens betritt.
Der Gouverneur und die Zeremonienmeister erschrecken heftig. Rio de Janeiro hat keine Paläste, hat nicht genug Räume und Betten, um so hohe Gäste und einen so zahlreichen Hofstaat zu empfangen. Aber das Volk jubelt dem Monarchen begeistert entgegen und begrüßt mit Jubelrufen ihn als den »Imperador do Brasil«, denn es fühlt instinktiv, daß ein Monarch, der einmal als Flüchtling bei ihm Schutz gesucht, Brasilien in Hinkunft nicht mehr länger als untergeordnete Kolonie behandeln könne. In der Tat fallen bald nach der Ankunft des Königs die einengenden Schranken. Vor allem werden die Häfen dem Welthandel geöffnet, die industrielle Produktion unbeschränkt freigegeben, eine eigene Bank geschaffen, die Banco do Brasil, Ministerien eingesetzt, eine königliche Presse eröffnet, zum erstenmal darf in dem bisher geknebelten Land sogar eine Zeitung erscheinen. Eine Reihe Institute erstehen, die Rio de Janeiro zu einer wirklichen Hauptstadt machen, Akademien, Museen, ein botanischer Garten. Aber erst 1815 erfolgt endlich die volle staatsrechtliche Gleichberechtigung der reinos unidos; Portugal und Brasilien, einst Herrin und Magd, sind nun Schwestern. Was vor einem Jahrzehnt nicht zu erträumen war und von staatsmännischer Weisheit ansonsten in Jahrhunderten nicht zu erhoffen, das hat die weltumformende Persönlichkeit Napoleons in knappster Frist erzwungen. Durch diesen Glücksfall – immer waren, man kann es nicht genug wiederholen, die Katastrophen Portugals Glücksfälle für Brasilien – bleibt der Unabhängigkeitskrieg, der Nordamerika durch Jahre verwüstet und die anderen südamerikanischen Staaten schwere Blutopfer gekostet, diesem bevorzugten Lande zunächst erspart; Brasilien kann die europäische Unruhezeit geruhig nutzen, um seine Grenzen langsam zu konsolidieren. Längst – 1750 – sind die alten Einschränkungen des Vertrages von Tordesillas für ungültig erklärt worden. Weit nach Westen, den ganzen Lauf des Amazonas entlang, erstreckt sich das neue Königsreich in die Tiefe; im Süden ist Rio Grande do Sul dazugewonnen, im Norden die lang umkämpfte Grenze bis nach Guyana hinaufgerückt, und die gute Gelegenheit, daß Europa auf Kongressen beschäftigt ist, verlockt Dom João VI., sich mit einem Handstreich Montevideos zu bemächtigen und Uruguay – allerdings nur vorübergehend – an Brasilien als cisalpinische Provinz anzuschließen. Die endgültige Form Brasiliens ist mit dem neunzehnten Jahrhundert soviel wie erreicht.
Diese Jahre der Gegenwart des königlichen Hofes bringen außer dem politischen dem Lande auch ungemeinen moralischen Gewinn. Seit die Jesuiten unter Pombal aus dem Lande vertrieben wurden, geschieht es zum erstenmal, daß Portugiesen von kulturellem Rang, Gelehrte, Wissenschaftler sich in der Hauptstadt ansässig machen. In großzügigster Weise beruft der König außerdem Forscher und Maler aus Frankreich und Österreich, um Institute zu begründen oder zu erweitern. Erst von diesem Zeitpunkt an besitzen wir wirkliche Bilder und Darstellungen von Rio, wissenschaftliche Studien, lesbare Schilderungen. Das königliche Brasilien ist nun nicht mehr die einstige terra do exilio, seit es die terra do refúgio seines Königs geworden, und in wenigen Jahren wird es ein Gegenpol europäischer Zivilisation und die Stätte eines glanzvollen und hochgeachteten Hofes. Und nichts zeigt deutlicher die Weltstellung dieses neuen Landes, als daß der Kaiser von Österreich, nach Napoleons Fall der mächtigste Mann Europas, den Thronfolger dieses Reiches, Dom Pedro, nicht für