Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig
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Niemand nimmt gern Abschied, der hier einmal gewesen. Bei jedem Fortreisen und von jedem Ort wünscht man sich zurück. Schönheit ist selten und vollendete beinahe ein Traum. Diese eine Stadt unter den Städten macht ihn wahr auch in düstersten Stunden; es gibt keine tröstlichere auf Erden.
15. Blick auf São Paulo
Um die Stadt Rio de Janeiro darzustellen, müßte man eigentlich ein Maler sein, um São Paulo zu schildern, ein Statistiker oder Nationalökonom. Man müßte Zahlen türmen und vergleichen, Tabellen nachzeichnen und versuchen, Wachstum in Worten sichtbar zu machen; denn nicht seine Vergangenheit und nicht seine Gegenwart machen São Paulo so faszinierend, sondern sein gleichsam unter der Zeitlupe sichtbares Wachsen und Werden, sein Tempo der Verwandlung. São Paulo gibt kein Bild, weil es seinen Rahmen ständig erweitert, weil es zu unruhig ist in seiner rapiden Veränderung; man zeigte es am besten als Film und zwar als einen, der von Stunde zu Stunde rascher abrollt; keine Stadt Brasiliens und wenige der ganzen Erde lassen sich an Ungestüm der Entwicklung dieser ehrgeizigsten und dynamischsten Brasiliens vergleichen.
Ein paar Zahlen also, nur um einen Maßstab zu haben, eine Art Thermometer für die Fieberkurve dieser Entwicklung. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gründen die Jesuiten ein paar Hütten und Häuser um ihr primitives Kollegium, das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert sieht an dem Ufer des kleinen Flusses Tiete noch ein unbedeutsames Städtchen, Hauptquartier und Feldlager eher als ständiger Wohnsitz jener schweifenden Banden, der paulistas, die von hier aus in den berühmten und berüchtigten entradas das ganze Land nach Beute durchstreifen, ohne aber sich und die Stadt mit ihrem Sklavenfang wirklich reich zu machen. Noch tief im neunzehnten Jahrhundert, 1872, steht São Paulo mit seinen 26 000 Einwohnern, seinen engen und ärmlichen Straßen noch an zehnter Stelle unter den Städten Brasiliens, weit hinter der Residenzstadt Rio mit 275 000, hinter Bahia mit 129 000 Einwohnern, aber sogar noch hinter Städten, deren Namen der Nichtbrasilianer gar nicht kennt wie Niterói mit 42 000 und Cuiabá mit 36 000 Menschen. Es ist der Kaffee, der große König, der zuerst seine Arbeitstruppen hierherkommandiert, und, einmal eingesetzt, nimmt der Aufstieg phantastische Proportionen an. Die 26 000 Einwohner von 1872 haben sich 1890 zu 69 000 verdreifacht, im nächsten Jahrzehnt springt die Ziffer zu 239 000 empor. Im Jahr 1920 sind es schon 579 000, um 1934 ist die Million überschritten und heute wohl schon der Pegel von anderthalb Millionen, ohne daß ein geringstes Anzeichen für eine Verminderung des Tempos zu vermerken wäre. 1910 wurden 3 200 Häuser gebaut, 1938 über 8 000, eine Zahl, die aber an sich keineswegs die Proportion des Aufstiegs ganz begreifen läßt, denn die neuen Häuser umfassen als Hochhäuser, als Wolkenkratzer jedes einzelne den vielfachen Wohnraum von Dutzenden früheren, einfachen und engen Einstockgebäuden; besser drückt sich der Steigerungskoeffizient aus im Mietwert, der allein von 1910 von 43 137 Kontos auf fast das Zwanzigfache mit zirka 800 000 emporgeklettert ist. Jede Stunde mindestens vier neue Häuser, das ist heute das ungefähre Entwicklungstempo dieser Stadt, die, seit die Industrie dem Kaffee die Königsherrschaft entrissen hat, mehr als 4 500 Fabriken in sich vereinigt und faktisch mehr oder minder das ganze merkantile Leben des Landes unter seiner Führung hält.
Was sind die Ursachen, die einen solchen phantastischen Aufstieg bedingten und heute noch befördern? Im wesentlichen dieselben geographischen und klimatischen, die den Gründer Nóbrega vor vierhundert Jahren diesen Raum als den geeignetsten für eine gesunde und rasche Expansion in ganz Brasilien wählen ließen. Einer der besten Häfen Südamerikas, Santos, liegt nahe, das Hochplateau erleichtert den Verkehr nach allen Richtungen, das große Strombett des Paraná und La Plata ist leicht erreichbar, die Erde, die sogenannte terra roxa, fruchtbar und jeder Art der Anpflanzung willig, die hydro-elektrische Kraft im Überfluß vorhanden und überdies wohlfeil; dies alles allein schon genug, um das rapide Wachstum innerhalb eines sich selbst ständig potenzierenden Landes zu erklären. Aber der entscheidende Faktor war von Anfang an das Klima, das, zwar mit Sonne gesättigt, auf diesem achthundert Meter hohen Plateau doch niemals jene erschlaffende Wirkung auf die Arbeitskraft übt wie in den tropischen Zonen und den nieder gelegenen Küstenstädten. Schon im siebzehnten Jahrhundert hatte es sich erwiesen, daß der paulista energischer, tatkräftiger, aktiver gesinnt sich entwickelte als die übrigen Brasilianer. Die eigentlichen Träger der nationalen Energie, erobern und entdecken sie das Land, semper novarum rerum cupidi, und dieser Wille zum Wagnis, zu Fortschritt und Expansion hat sich in späteren Jahrhunderten dem Handelswesen und der Industrie vererbt. Das eigentliche Vorwärtstempo bringen dann die Immigranten in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Unwillkürlich sucht der Immigrant Lebensbedingungen und eine klimatische Einstellung, die der seinen gemäß ist; die Italiener, die den Hauptstock der Zuwanderung bilden, finden in São Paulo das Klima von Norditalien, von Mittelitalien und die Sonne des Südens wieder. Sie müssen sich nicht umstellen, nicht umlernen; ungebrochen bringen sie ihre ganze Stoßkraft mit sich und verstärken sie eher noch im neuen Lande. Denn der Einwanderer ist immer ungeduldiger vorwärtszukommen als der Ansässige, er besitzt nichts Ererbtes, von dem er ausrastend leben und zehren könnte, sondern muß alles erst erwerben. Das steigert sein Tempo, seinen Energieeinsatz. Und dieser Einschuß von Tatkraft und Wagemut reißt dann die andern mit; gerade die arbeitswilligsten, die ambitiösesten Brasilianer etablieren sich in São Paulo, wo sie diese höher zivilisierten, besser vorgebildeten und leistungswilligeren Arbeiter zur Verfügung haben. Das Kapital strömt dem Unternehmungsgeist wieder willig nach, ein Rad greift ins andere, und so wird der Umschwung von Jahr zu Jahr immer rascher; vier Fünftel all dessen, was heute im ganzen Lande industriell und organisatorisch geleistet wird, hat hier seinen Handgriff und seinen Impetus. São Paulo