Seine schönsten Erzählungen und Biografien. Stefan Zweig

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Seine schönsten Erzählungen und Biografien - Stefan Zweig

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ist der Muskel im Organismus zwar eines der notwendigsten Elemente, aber an sich kein schönes Organ. Wer sich von der Stadt São Paulo besondere ästhetische, sentimentale oder pittoreske Eindrücke erwartet, sei gewarnt; es ist eine Stadt, die der Zukunft entgegenwächst und so unruhig und ungeduldig, daß sie für ihre Gegenwart kaum viel Sinn hatte und noch weniger für ihre Vergangenheit. Wer etwas Historisches hier sucht, wird es sowenig finden wie in Houston oder einer der andern nordamerikanischen Petroleumstädte; selbst das alte Kollegium der Stadtbegründer, das wie ein Pantheon pietätvoll hätte bewahrt werden sollen, ist längst irgendeinem Zweckbau zum Opfer gefallen. Von seinem siebzehnten, seinem achtzehnten Jahrhundert hat São Paulo sich soviel wie nichts bewahrt, und wer auch nur einen Überrest von dem paulistischen Wohntypus des neunzehnten Jahrhunderts sehen will, möge sich beeilen, denn mit einer fast erschreckenden Geschwindigkeit wird hier weggeräumt, was noch an gestern, an vorgestern erinnert; manchmal hat man das Gefühl, nicht in einer Stadt zu sein, sondern auf einem gewaltigen Bauplatz. Auf allen Seiten, nach Osten und Westen und Süden und Norden quellen die Häuser in die Landschaft über, und in der inneren City, im Geschäftsviertel, stülpt sich Straße nach Straße um; jemand, der vor fünf Jahren hier gewesen ist, muß sich zurechtfragen und zurechtfinden wie in einer neuen Stadt. Überall ist alles zu eng, zu nieder, zu klein geworden, die Straßen verlangen gebieterisch, breiter zu werden, und quetschen die Gebäude in die Höhe empor, Unterführungen müssen den Automobilen einen neuen Weg ins Freie bahnen, überall verändert sich alles eigenwillig und mit einer gewissen egoistischen Hast; so hat man noch heute hier das lebendige Bild von dem Werden und Sichumformen einer echten Kolonisten- und Immigrantenstadt. Nicht wie bei uns in Europa sind diese Städte langsam Ring um Ring um ein Zentrum gewachsen, sondern improvisatorisch, hastig, aufs Geratewohl. Irgendeiner hatte, herübergekommen, ein wenig Geld verdient; Zinshäuser waren keine zur Stelle, so baute er rasch (der Grund kostete nicht viel und ebensowenig die Arbeit) irgendwohin ein Haus, eines dieser kleinen, kunstlosen Häuser, wie man sie hier überall sieht, die ganze Küste, das ganze Land entlang; jedes nur immer ein offener Laden und darüber ein Stockwerk mit zwei, drei Zimmern, und wenn der Besitzer ein Italiener war, so strich er noch mit scharfen Farben, ockergelb oder ziegelrot oder meerblau, die Fassade an; ein Haus klebte sich an das andere, und dann war eine Straße da und noch eine und noch eine und noch eine und allmählich eine Stadt. Keiner war gewiß, in diesem Hause dauernd zu leben; vielleicht zog man weiter in eine ander Stadt, vielleicht kehrte man mit seinen Ersparnissen heim, vielleicht wurde man reich, dann baute man sich eben ein schöneres, eine jener überladenen Prunkvillen in Pseudobarock oder orientalischem Stil, wie sie vor dreißig Jahren hier überall als vornehm galten. Der Begriff der Dauer, der Seßhaftigkeit, der Stetigkeit, der Ständigkeit, der restlosen bürgerlichen Einordnung in das Stadtwesen mußte notwendigerweise diesen noch nomadischen Einwanderern völlig fehlen, und darum konnten von vornherein diese Städte im architektonischen Sinne nur Provisorien werden, nur ein zufälliges Nebeneinander vieler Wohnstätten, etwas wild und planlos Gewachsenes aus Ziegel und Lehm, das man ebenso leicht niederzureißen sich entschließt, wie man es gebaut hatte; ein Haus, das zwanzig Jahre alt ist, gilt hier so wie bei uns ein zweihundertjähriges als längst überlebt, und es wird mit gleicher Hast niedergerissen, wie es erbaut worden war.

      Erst seit die Industrie, der Handel und der Reichtum sich so sprunghaft entfalten, scheint São Paulo entdeckt zu haben, daß es längst eine Großstadt ist und die repräsentativen Pflichten einer Großstadt hat. Alles ist hier mit einem Mal zu eng, zu klein geworden, die Straßen, die Plätze, die Kirchen, die Verwaltungsgebäude, die Bankgebäude, die Spitäler, und mit einem entschlossenen Willen ist nun die Stadt an der Arbeit, sich ein Zentrum, eine Form zu schaffen; wer heute hierherkommt, erlebt einen der interessantesten Augenblicke. Er kann sehen, mit welcher Energie hier ein Nebeneinander in ein Ineinander, ein Provisorium in ein Definitivum umgestaltet wird. Überall wird gearbeitet, Brücken werden unterfahren, Parks und Promenaden angelegt, Avenuen durch die engen Stadtteile geführt, große staatliche Gebäude errichtet und all dies planhaft, freilich nach Plänen, die, wie man mir sagt, jedesmal von dem rasenden Wachstumstempo der Stadt noch während des Baus schon überholt werden. Gegenseitig sich immer um ein paar Stockwerke überbietend, stemmen sich im Zentrum die Wolkenkratzer empor, um die Raumenge zu bewältigen, während gleichzeitig hügelauf und hügelab in immer weiterem Kreise die Villenvorstädte sich radial verbreitern. Und auch ethnographisch schichtet sich die Stadt völlig um. Während sie vordem einzig gegliedert war nach den Nationen der Einwanderer in ein italienisches Viertel (São Paulo ist zugleich eine der größten italienischen Städte der Welt), ein armenisches, ein syrisches, ein japanisches, ein deutsches, schmilzt dies alles jetzt ineinander, und nach rein repräsentativen Formen scheidet sich die Stadt, innen eine City mit stark nordamerikanischen Architekturformen und außen eine Wohn- und Gartenstadt, beide befähigt, in einigen Jahren und Jahrzehnten in einem neuen Sinne schön zu werden. Schon jetzt, wenn man von einem der Hochhäuser die leichtgewellte weite Fläche überblickt, gewinnt man allerhand erfreuliche Ausblicke; aber das Wesentliche ist in São Paulo, dieser typischen Entwicklungsstadt, das Werdende und nicht das schon Vollendete; stärker als selbst in Nordamerika und hier unten nur ähnlich in Montevideo habe ich das Phänomen einer Stadt gesehen, die sich gewissermaßen umstülpt und völlig peau neuve macht. Wenn man also auf dem Begriff der Schönheit durchaus beharren will, so kann man die São Paulos nicht eine vorhandene, sondern nur eine werdende nennen, eine nicht so sehr optische als energetische und dynamische, eine Schönheit und Form von morgen, die man durch das Heute eben jetzt mit einer ungeduldigen Gewalt durchbrechen fühlt.

      Den Sinn und die Prägung gibt zunächst dieser Stadt noch die Arbeit. São Paulo ist keine Genießerstadt und nicht auf Repräsentation eingestellt, sie hat wenig Promenaden und keine Korsos, wenig Ausblicke und Vergnügungsstätten, und auf den Straßen sieht man fast nur Männer, hastige, eilende, tätige Männer. Wer hier nicht arbeitet oder zu Geschäften kommt, weiß nach einem Tage nicht mehr wohin mit seiner Zeit. Der Tag hat hier doppelt soviel Stunden wie in Rio und die Stunde doppelt soviel Minuten, weil jede mit Tätigkeit bis an den Rand vollgepreßt ist. Hier gibt es alles Neue, alles Moderne, ein gutes Kunsthandwerk und sehr erlesene Luxusgeschäfte, aber man fragt sich, wer hier Zeit hat für Luxus, für Genießen statt Verdienen. Unwillkürlich ist man an Liverpool, an Manchester erinnert, an diese Nur-Arbeits-Städte, und in der Tat verhält sich São Paulo zu Rio de Janeiro wie Mailand zu Rom, wie Barcelona zu Madrid, beides nicht die Hauptstädte, nicht der Sitz der Verwaltung, nicht die Hüter der Kunstwerte des Landes, aber den Residenzen überlegen durch werktätige Energie. Die eine Provinz São Paulo leistet – auch dank des kühleren Klimas, das den eingewanderten Europäern nichts von ihrer Aktivität nimmt – allein industriell und kaufmännisch mehr als der Großteil des übrigen Landes, sie ist moderner, fortschrittlicher als alle andern und deshalb nordamerikanischen oder europäischen Städten ähnlicher durch ihre intensive Organisation. Nichts von der wundervollen Weiche Rios, von dieser Atmosphäre, die ständig zum Schauen und zu schönem Müßiggang verlockt; die Musikalität, die jene helle Stadt und die ganze Bucht von Guanabara umschwebt, ist hier ersetzt durch Rhythmus, einen starken, heftigen Rhythmus, den Herzschlag eines Läufers, der vorwärts, vorwärts rennt und sich an der eigenen Geschwindigkeit berauscht. Was ihr an Schönheit noch fehlt, ist aufgewogen durch Energie, die hier in diesen tropischen Zonen viel auffälliger und wertvoller wird, und was noch wesentlicher ist: diese Stadt weiß, daß sie sich ihre Form erst erobern muß, und da die Paulisten eine starke Rivalität gegen Rio de Janeiro beseelt, ein Wille, nicht inferiorer, nicht unkünstlerischer zu wirken, so kann man hier in den nächsten Jahren auf allerhand Überraschungen gefaßt sein.

      An eigentlichen Sehenswürdigkeiten – ein unangenehmes, hochmütiges Wort – hat São Paulo heute noch nicht viel, und alle drei haben bei ihrer Großartigkeit einen fatalen Beigeschmack. Da ist das Ypirangamuseum, das die ganzen ethnographischen Verschiedenheiten der brasilianischen Fauna, Flora und Kultur in ausgezeichneter Weise und durchdachter Übersicht zeigt; aber was man im Durchwandern der Säle fühlt, ist eher Sehnsucht als Erfüllung, denn die tausend verschiedenfarbigen Kolibris und Papageien möchte man doch in ihrer Urwelt sehen, frei und unbekümmert statt ausgestopft, und man weiß, ein paar Stunden weit, da beginnt schon der Wald und die Dschungel, und während man noch vor den Schaukästen steht, träumt man von diesen phantastischen Regionen. Alles Exotische hört sofort auf, exotisch

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