Ein Gloria zum Sterben. Susanne Gantner
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«Der Organist ist alt?»
«Ja, Otto Haller ist schon 75. Deshalb muss ihn Alex manchmal fahren, wenn die Tochter keine Zeit hat. Otto wohnt in Bern.»
«Er kommt von Bern, um hier den Orgeldienst zu versehen?»
«Ja. Es gibt nicht genug Organisten.»
«Wann genau haben Sie die Kirche verlassen?» Bonsai hatte wieder Bleistift und Notizblock gezückt.
«Es muss unmittelbar nach dem Probenende gewesen sein: zwischen 21.45 und 21.50 Uhr.»
«Und Sie haben sich direkt zum Diakon begeben?», wollte Stampfli wissen.
«Ja. Allerdings habe ich auf dem Weg dorthin noch eine Zigarette geraucht.»
«Was mussten Sie denn Wichtiges mit dem Mann besprechen? Hätte das nicht bis zum nächsten Tag warten können?»
«Ich bin, wie gesagt, Gemeindearbeiter und dafür zuständig, dass an Weihnachten zwei Weihnachtsbäume in der Kirche stehen. Die sollte ich heute Morgen fällen. Ich musste mich mit dem Diakon über die Grösse einigen.»
«Und - haben Sie die Bäume gefällt?»
«Selbstverständlich.»
«Ist Ihnen auf dem Weg zum Haus von Herrn Amstutz irgendetwas aufgefallen? Eine fremde Person zum Beispiel?»
«Nein, ich war alleine auf dem Weg. Dann kamen wohl die anderen Kirchenchormitglieder, denn ich hörte, wie die Kirchentür aufging und jemand lachte.»
«Vielen Dank, Herr Winiger. Wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, etwas, was Sie beobachtet haben, rufen Sie mich bitte an.»
«Okay, gerne.» Auch Herr Winiger bekam eine Visitenkarte der Kantonspolizei.
Eine kleine alte Frau mit Stock betrat den Vernehmungsraum. Sie hatte ihre grauweissen Haare straff zu einem Dutt hochgesteckt. Hinter der unkleidsamen Brille sahen ihre Augen aus wie Schlitze. Sie marschierte energisch zu ihrem Stuhl und nahm umständlich Platz. Dann zeterte sie los: «Ich habe in meinem ganzen 85-jährigen Leben noch nie mit der Polizei zu tun gehabt. Was wollen Sie? Ich, Magdalena von Blumenthal, habe nichts mit dem Mord an Melanie Hug zu tun, obwohl ich finde, sie hat den Tod tausendmal verdient.»
«Grüezi, Frau Blumenthal. Ich bin Heiri Stampfli von der Kantonspolizei und dies ist mein Mitarbeiter Delafontaine. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.»
«Ich habe keine Lust, Ihre blöden Fragen zu beantworten. Sie stehlen mir nur meine Zeit.»
«Melanie Hug war Ihnen wohl nicht sympathisch?»
«Nicht sympathisch, nicht sympathisch! Melanie war eine eingebildete Gans. Sie meinte, sie sei die Callas von Zürich – mit ihrem fürchterlichen Vibrato*. Gut, dass sie uns nicht mehr auf den Wecker geht.»
«Haben Sie eine Ahnung, wer die Frau ermordet haben könnte?»
«Oh, ihre eigene Bosheit hat sie umgebracht, davon bin ich überzeugt.»
«Okay, Frau von Blumenthal, sind Sie nach der Probe noch zum Umtrunk in den „Leuen“ gegangen?»
«Oh nein, das mache ich nie. Wir vier Frauen vom Alt treffen uns nachher regelmässig zu einem Jass und einem Tee bei Liseli.»
«Bei Liseli?»
«Ja, bei Liseli Fischer. Bernadette Trachsler und Frieda Ermotti sind auch dabei.»
Bonsai schrieb die Namen in sein Notizbuch. «Sie sind gestern alle zusammen zu Liseli Fischer gegangen, um Karten zu spielen?»
«Sicher.»
«Und wann haben Sie die Kirche verlassen.»
«Nach der Probe.»
«Ist Ihnen nichts Aussergewöhnliches aufgefallen?»
«Was soll mir denn aufgefallen sein?»
«Okay, wir danken für die Auskunft, Frau von Blumenthal. Sie sind hiermit entlassen.»
«Hoffentlich auch. Es war mir kein Vergnügen», brummelte die Alte, bevor sie schnaufend aufstand und mit ihrem Stock zum Abschied an den Stuhl schlug.
«Uff», stöhnte Stampfli, nachdem die Tür hinter Frau von Blumenthal ins Schloss gefallen war. «Jetzt brauche ich etwas in den Magen. Ich bin am Verhungern.» Der Ermittler schätzte im Gegensatz zu Bonsai eine feine Mahlzeit. Er war ein strammer Mann mit muskulösen Oberarmen. Trotz dem sichtbaren Bauchansatz sah er nicht schlecht aus für seine 55 Jahre. Dichte, an den Schläfen bereits ergraute Locken umrahmten ein eher rundes Gesicht mit einer markanten Nase. «Komm Kleiner, wir gehen in die Pizzeria, die ich auf dem Weg hierher gesehen habe. Nachher können wir mit frischer Energie weitermachen. Die nächsten drei Chormitglieder habe ich erst in einer Stunde aufgeboten.»
Heiri packte Bonsai in seinen Opel. Sie fuhren zum Restaurant, das leider ziemlich voll war. Zum Glück bekamen sie noch einen kleinen Tisch neben der Theke. Der Ermittler bestellte eine grosse Pizza con Funghi e Salami con Mozzarella di Bufala*. Bonsai konnte sich nur für Spaghetti mit Tomatensauce erwärmen.
«Du bist schon kein Feinschmecker», meinte Heiri gutmütig und zeigte seine vielen Lachfalten.
«Nein, aber es gefällt mir so.» Bonsai ernährte sich in der Tat fast ausschliesslich von Toblerone*, Spaghetti, Pommes und – Pizza. Aber heute wollte er das nicht bestellen. Er war ein Fan von Fertigpizza. Trotz dieser ungesunden Ernährungsweise hatte der junge Mann kein Gramm zu viel auf den Rippen und war fit wie ein Turnschuh.
«Ein feines Glas Rotwein wäre jetzt der Hammer. Aber das liegt im Dienst nicht drin», meinte Stampfli mit Bedauern. Mit der riesigen Pizza hatte er keine Mühe. Wenn es einen schwierigen Fall zu lösen gab, bekam der Ermittler immer besonders viel Appetit.
Nach dem Essen kehrten die beiden ins Kirchgemeindehaus zurück. Es war noch niemand da.
«Bonsai, ruf doch bitte den Chorleiter, Alex Zumbühl, an und frag ihn, ob es stimmt, dass er gestern den Organisten Otto Haller zum Hauptbahnhof gefahren hat. Dann können wir die beiden von der Liste streichen.»
Bonsai griff zum Handy und konnte kurz darauf den Sachverhalt so bestätigen.
Es klopfte. Eine junge, ausserordentlich hübsche Frau mit langen, schwarzen Haaren und blitzenden, dunklen Augen kam hereingestöckelt.
«Das muss Carmen sein», dachte Bonsai amüsiert. Es war Carmen.
«Hallo. Mein Name ist Carmen Vico». Sie nahm elegant auf dem Stuhl Platz und schlug die Beine übereinander. Dabei stellte Bonsai fest, dass sie sehr schöne und schlanke Beine hatte. Auch ihr Busen war durchaus ansehnlich.
«Womit kann ich Ihnen dienen?» Ihre glockenhelle Stimme klang weich wie Samt.
Stampfli räusperte sich: «Frau Vico. Wir haben gehört, dass Sie in letzter Zeit die Sopransoli des Chores gesungen haben, bis Frau Hug nun an Weihnachten den Anfang des „Gloria“ übernehmen sollte.»
«Das ist richtig.»
«War