Shana, das Wolfsmädchen. Federica de Cesco
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Читать онлайн книгу Shana, das Wolfsmädchen - Federica de Cesco страница 6
Ich stand lautlos auf, ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, den ich in eine schmutzige Tasse goss. Der Kaffee war heiß, viel zu stark und schmeckte ekelhaft. Ich würgte ihn herunter, spülte mir den Mund im Spülbecken aus. Dann setzte ich mich oben auf die Treppenstufen und wartete. Jedes Mal, wenn ich mich bewegte, gab das Holz kleine, quietschende Geräusche von sich, die mir durch Mark und Bein gingen. »Sei ruhig!«, flüsterte ich, als ob das Holz ein Lebewesen wäre, zu dem ich sprechen konnte. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass mein Körper sich weitete, größer und immer größer wurde wie eine Luftblase, die das ganze Haus ausfüllte.
Es war heller Tag, als Elliot nach Hause kam. Ich musste eingeduselt sein, denn plötzlich hörte ich schwere, unsichere Schritte. Ich zuckte zusammen, war in einer Sekunde hellwach. Die Haustür flog auf. Elliot torkelte in die Diele. Ich saß oberhalb der Treppe im Schatten, sodass er mich zuerst nicht sah. Er knallte die Haustür zu, wankte zum Klo, ich hörte sämtliche Geräusche. Die Klospülung zog er nicht. Dann, stur vor sich hin brummelnd, quälte er sich die Treppe hinauf, zwei Schritte für jede Stufe. Auf einmal erblickte er mich, blieb stehen. Seine Haare waren zerzaust, das schmutzige Hemd klebte an seinem Körper und verlieh ihm ein lächerliches Aussehen. Ich roch den süßlichen Geruch seines Erbrochenen.
»He, was machst du da?«, lallte er.
»Wo ist mein Kleid?«, fragte ich.
Er hielt sich am Geländer fest.
»Dein Kleid? Welches Kleid?«
»Melanies Festkleid. Es gehört jetzt mir.«
»Dir?« Er kniff die Augen zusammen. »Wer hat das gesagt?«
Ich hob herausfordernd den Kopf.
»Melanie. Und ich will es jetzt haben. Ich tanze heute für sie.«
Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht, sein ganzer Körper zitterte. Er schien unfähig auch nur einen Ton über die Lippen zu bringen.
Ich richtete mich auf. Da ich drei Stufen höher stand und er mich von unten sah, war mir, als sei ich fast doppelt so groß. Dass ich noch stärker zitterte als er, merkte er wahrscheinlich nicht.
»Wo ist das Kleid?«
Unbarmherzig betonte ich jede Silbe. Elliot schluckte würgend. Das erbärmliche Grinsen eines Einfältigen, eines Idioten, verzerrte sein Gesicht.
»Verkauft«, sagte er. »Ich habe es verkauft. Ich brauchte Geld. Musste einem Kumpel was zurückzahlen.«
Schweigen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf wie eine Rassel hin und her schlug. Endlich konnte ich sprechen. Ich fragte: »Wem hast du es verkauft?«
»Einem Urban. Und der ist weg.« Elliot murmelte schwerzüngig vor sich hin, aber das Echo seiner Worte setzte sich in meinen Ohren für alle Ewigkeit fest. »Die Leute von hier, die haben Melanie tanzen gesehen. Die hätten das Kleid nie gekauft.«
»Nein«, flüsterte ich rau.
Er atmete gepresst, kratzte sich die schwitzende Brust.
»Was ich sagen wollte … ambesten, du denkst nicht mehr daran. Deine Mutter, sie ist ja nicht mehr da.«
»Doch«, erwiderte ich.
»Wie?«, knurrte er.
Ich schluckte schwer.
»Doch, sie ist da. Sie hört und sieht alles.«
Es waren die einzigen sicheren Worte, die mir einfielen. Elliot fuhr sich mit dem Ellbogen über die nasse Stirn, atmete laut durch die Nase.
»Hatte Probleme«, sagte er tonlos. »Bin reingeschliddert. Musste zahlen …«
Er zog sich mühsam am Geländer hoch, bis er dicht unter mir stand. Er streckte die Hand aus, um mir über den Kopf zu streichen. Sein Gesicht war klebrig und verzerrt.
»Shana, es tut mir Leid, ehrlich. Wenn ich gewusst hätte …«
Aus dem Schmerz in mir keimte verzweifelte Wut. Ich fühlte nur noch Zorn, grenzenlos bitteren Zorn, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Ich wich ihm aus, sprang hastig zurück.
»Rühr mich nicht an!«, schrie ich. »Du … du hast …« Meine Stimme brach,heftiges, unbeherrschtes Schluchzen stieg in mir hoch. Durch den Tränenschleier verschwamm Elliots Gesicht vor meinen Augen, wurde zu einem undeutlichen Fleck. Ich holte tief Luft, würgte mit äußerster Anstrengung die Tränen hinunter. Als ich wieder sprach, kannte ich meine Stimme nicht wieder. Sie war wie die einer Fremden, spröde, dumpf und meilenfern.
»Das hättest du nicht tun sollen, Elliot. Melanie wird traurig sein. Sie hatte nicht alles mitgenommen, siehst du. Sie hatte etwas von sich selbst in das Kleid eingewebt, für mich. Und jetzt werde ich nie für sie tanzen können.«
Er wandte stumm das Gesicht ab. Die schweren Lider bedeckten halb die Pupillen, die aus dem Winkel der feuchten Augen hervorglänzten.
»Shana, mein Mädchen …«, stieß er hervor.
Doch ich ließ ihn nicht ausreden. Was immer er sagen wollte, es war ohne Bedeutung. Ich wirbelte herum, lief die Stufen hinauf, stolperte tränenblind über den ausgefransten Quiltvorleger. Ich rannte in mein Zimmer, knallte die Tür zu und drehte den Schlüssel. Die Beine gaben unter mir nach. Keuchend ließ ich mich auf den Fußboden nieder; ich lehnte den Rücken an die Wand, zog die Knie an und hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen. Die Sonne leuchtete durch die Scheiben. Der Himmel war blau und klar, es würde ein schöner Tag werden. Ein Tag, auf den ich mich gefreut hatte. Langsam schaukelte ich vor und zurück und spürte im hellen Sonnenschein, wie das kleine Zimmer immer kälter wurde.
Ich trieb mich auf der Festwiese herum, dort wo das Essen verteilt wurde. Eine halbes Dutzend lange Tische waren mit Speisen bedeckt. Die Alten saßen satt und zufrieden auf ihren Klappstühlen, fächelten sich Kühlung zu und dösten, während sich die Tänzer bereitmachten. Mir wurde es vor Hunger schwarz vor den Augen, mein Magen war mit kalter Luft gefüllt, ich zitterte bis in die Fingerspitzen. Die alte Maggie Benjamin, die mich seit einer Weile sorgenvoll beobachtete, winkte mir zu.
»Du siehst schlecht aus, Shana. Zu wenig geschlafen?«
Ich schwieg und schielte auf die Speisen. Das Wasser lief mir im Mund zusammen. Maggie seufzte, füllte einen Pappteller mit Kartoffelsalat und einem Stück Brathuhn und wies auf einen freien Klappstuhl. Ich bedankte mich, stopfte den Kartoffelsalat in mich hinein, nagte jeden Knochen ab. Maggie sah zu, wobei sie brummend mit dem Kopf nickte. Als ich den Teller leer gegessen hatte, schnitt sie eine Schokoladentorte für mich an und gab mir eine Tasse Kaffee, die zur Hälfte aus Milch und Zucker bestand. Danach fühlte ich mich besser. Mein Zittern ließ nach. Höchste Zeit jetzt, dass ich mich verdrückte. Aber da sah ich schon Alec, der mir ein Zeichen gab. Die Hitze schoss mir ins Gesicht. Zu spät! Ich konnte nicht mehr davonlaufen. Alec trug bereits sein prächtiges Kostüm und die Linie auf seiner Stirn und Nase war kobaltblau. Unter jedem Auge war ein dunkelblauer Tupfer mit orangeroten Strahlen gemalt. Indianer lieben es, sich schön zu machen, und Alec sah wirklich großartig aus. Unter den bewundernden Blicken sämtlicher Mädchen, seiner Wirkung voll bewusst, schritt er gelassen auf mich zu. Eine lähmende Stumpfheit senkte sich auf mich herab wie Nebel. Ich wollte verschwinden, mich in Luft auflösen, nicht mehr da sein. Doch ich saß auf dem Klappstuhl, saß einfach da und rührte mich