Venedig sehen und morden - Thriller-Paket mit 7 Venedig-Krimis. Meinhard-Wilhelm Schulz
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3. Teil: Der erste Mord
Es war am sechsten Juli des Jahres 2019. Venedig litt unter einer unerträglichen Hitzewelle, und alles, was Rang und Namen hatte, war aus diesem brodelnden Kessel nach Rimini ans Meer geflüchtet. Die kleinen Leute, vor allem die Pensionäre und Rentner mit ihrer klammen Kasse, mussten in den grauen Mauern ausharren, und an Schlaf war kaum noch zu denken.
Als sich die ersten Schatten über das besagte Viertel senkten und der Glut des Tages eine Brise von der Adria her folgte, stürzten sich die Bewohner aus ihren stickigen Häusern heraus und ins Gewimmel der verwinkelten Gassen hinein. Überall erwachte das Leben zu pulsierender Heftigkeit. An allen Ecken und Enden Leben, Lärm und Musik, und noch vor der letzten Eck-Kneipe war wimmelte es vor durstigen Menschen.
Eine dieser Wirtschaften wurde »La Dolce Vita« genannt. Sie lag am ‚calle Zotti‘, fast noch im Schatten der Cà d‘ Oro, und wurde von einer krausköpfigen Frau betrieben. Wegen ihres dunklen Teints hatte sie den Spitznamen »Merio« (Amsel) erhalten. Wie sie wirklich hieß, schien niemand zu wissen.
Sie war mittelgroß und von üppiger Gestalt. Ihre Art, sich zu kleiden, nur als »leicht« zu bezeichnen, sollte übertrieben sein, denn manche Besucher der Kneipe sagten, wenn die Merio nur die Schuhe ablegte, sei sie nackt. Einige Männer liebten sie so innig, wie manch eine Frau sie hasste.
Am oben genannten Tag verließ die »Amsel« ihre Wohnung im der parallel gelegenen ‚calle Forno‘, aufgrund der Hitze nur in ein ärmelloses Männerhemd gehüllt, die klobigen Füße unterhalb der Beine dick wie Dönertrommeln mit ihren rot lackierten Nietnägeln in Flipflops steckend. Sandalen oder Turnschuhe hätten ihr vielleicht das Leben gerettet.
So stieg sie die fensterlose Treppe, aus ihrer Wohnung zur im Düsteren verschwimmenden Gasse hinab, um die hundert Meter zu ihrer Kneipe zu überwinden, die sie stets erst bei Einbruch der Nacht aufzusuchen pflegte, wenn das Leben erwachte.
Dort stand sie gewöhnlich mit ihrem Koch hinter der Theke, um die Gäste an den Tischen und Stühlen draußen im Freien zu bedienen, bis es einen der feinen Herren gelüstete, auch das Hinterzimmer kennen zu lernen, doch heute kam die Merio nicht ans Ziel, denn eine schwarz vermummte Gestalt heftete sich an ihre Fersen und huschte ihr lautlos durch den ‚Calle Forno‘ hinterher, rasend schnell näher kommend.
Als sie fast schon den Atem der Bestie im Nacken verspürte, ohne es zu wagen, sich umzudrehen, wollte sie um Hilfe schreien, aber der Hals war ihr wie ausgetrocknet. Außerdem gab es weit und breit niemanden, der ihr zu Hilfe hätte kommen können.
Und immer näher kam das dumpfe Tappen der Schritte. Die ‚Amsel‘ begann jetzt, in wilder Panik davon zu rennen, während eine glühende Woge ihren Körper überflutete, aber sie verlor in der Hast die Flipflops und stieß sich die Zehen an den Kanten des schlecht verlegten Pflasters derart blutig, dass sie vor Schmerzen stöhnte und kaum noch laufen konnte. Daher holte sie der Verfolger, den Kopf in einer Kapuze verborgen, ein. Beigetragen hatte dazu, dass die Merio ziemlich viel Fett angesetzt hatte und seit Jahren nicht mehr gerannt war.
Schon blieb ihr die Puste weg. Keuchend stand sie auf der Stelle. Ihre Wülste wogten wie das Meer. Pfeifend entwich ihr der Atem. Jetzt hatte war er zur Stelle. Sie erstarrte vor Entsetzen. Jede Gegenwehr blieb aus. Sie war wie gelähmt. Er packte sie von hinten und hielt sie mit dem linken Arm wie in einem Schraubstock fest, während sie die Arme sinken ließ. Dann setzte er ihr das Messer an die Kehle. Wie Volpe erst später herausfand, war es ein mittelanges Messer mit gebogener Klinge, wohl ein Bowie Knife.
Die Merio fand gerade noch genügend Zeit, wie verrückt zu kreischen, während der Angreifer seine Arbeit in eisigem Schweigen oder gespenstischem Kichern vollendete. Ihr Schreien ging in ein schwaches Wimmern über, bis ihr zischend ein letzter Atemzug aus der aufgeschlitzten Kehle entwich.
Der Mörder hatte ihr den Hals gründlich abgeschnitten und ließ sie nun zu Boden gleiten. Rasch breitete sich eine Blutlache aus. Er beugte sich über die Leiche, schlitze er ihr das Hemdchen auf, zerrte die Stoffbahnen über ihren großen schlaffen Brüsten auseinander und ging dann gemächlich seiner Wege.
Jetzt kam Leben in die Gasse: Von beiden Seiten stürzten die Anwohner herbei. Einige hatten Taschenlampen dabei, welche die Szene wie irre beleuchteten, indem sich die Lichtkegel wirr überschnitten und kreuzten. Daher konnte es dem Betrachter so vorkommen, als schnitte die Merio verrückte Grimassen.
Jemand schrie mit sich überschlagender Stimme, »Mord, Mord! Haltet den Mörder«, und schon verfolgten einige den Vermummten, der sich in riesigen Sprüngen von der Walstatt entfernte und in den ‚Calle di Pistor‘ einbog. Dort verloren ihn die Verfolger aus plötzlich den Augen, ganz so, als hätte er sich in Luft aufgelöst, und die Leute, welche in diese Schlucht geeilt waren, starrten einander ins Gesicht, vom Grauen geschüttelt.
Wenig später erschien Ambrosio mit zwei Polizisten zur Seite. Er war zu spät gekommen und konnte nichts anderes tun, als die Ermordete in die gekühlte Leichenhalle schleppen zu lassen. Am nächsten Tag erst fand er heraus, dass es die Merio war. Er kannte sie nur flüchtig, freilich eher dienstlich, und das nur oberflächlich, denn sie war für seinen Geschmack zu fett.
Immer nämlich, wenn es vor ihrer Kneipe zu einer Schlägerei gekommen war, hatte er mit ihr zu tun gehabt und weinte ihr keine Träne nach. Zu Hauptmann Marcello sagte er mit sardonischem Grinsen, die Hölle sei voll von Ihresgleichen.
Am nächsten Tag machte er sich daran, die Passanten zu vernehmen, welche das Drama miterlebt hatten, aber so viel Mühe er sich auch gab, er kam keinen einzigen Schritt weiter. Die Beschreibung des Täters war nämlich so vage, dass sie auf hunderte gepasst hätte.
Ein großer Mann war es gewesen, der in einem schwarzen Umhang steckte, welcher oben in einer Kapuze auslief, dank derer er sein Gesicht verbarg. Das Geheimnis, weshalb der Mörder so spurlos hatte verschwinden können, konnte nicht gelüftet werden. Entweder war er über den quer verlaufenden ‚calle di Pistor‘ in die von da nach rechts abbiegenden ‚Calle larga Doge Priuli‘ geflüchtet, oder aber er hatte diese Straße rechts liegen lassen, um über die dortige Brücke den ‚Rio di San Felice‘ zu überqueren und in der ‚Fondamenta di San Felice‘ unterzutauchen.
Einer der ersten Gedanken, welche Tenente di Fusco hegte, war es, dass der Mörder eine Person sein könnte, die etwas gegen Frauen hätte, aus welchem Grund auch immer, denn die Merio war nicht ausgeraubt worden. Aber das waren vorerst nur vage Vermutungen die ins Leere gingen.
Ambrosio klapperte dann das Umfeld der Gemeuchelten ab, wiederum, ohne fündig zu werden. Die Merio hatte keine Familie, keine Verwandten. Ihre gemietete Kneipe war beliebt und gut besucht. Sie habe gewiss keine Feinde gehabt, sagte der Koch, und nicht wenige Männer mochten sie persönlich. Sie war eine fröhliche Erscheinung gewesen, kurz: Unter all ihren Gästen und Kunden herrschte Bestürzung und Trauer.
4. Teil: Der zweite Mord
Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht über den Frauenmord verbreitet. Alle Zeitungen brachten mit geringen Abweichungen einen Bericht heraus, in dem Tenente di Fusco sich dahin gehend äußerte, dass hier ein Geistesgestörter am Werk gewesen sein müsse, getrieben vom Hass auf Damen des ältesten Gewerbes. Er riet ihnen davon ab, nachts ohne Begleitung