Mörder kennen keine Grenzen. Horst Bosetzky
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Ich wartete, zehn Minuten, zwanzig Minuten, eine halbe Stunde. Keine Spur von Kolczyk. Aber ich fluchte nicht, ich genoss dieses Warten, denn so konnte ich meine Vorfreude voll und ganz auskosten. Endlich war der Tag gekommen, wo ich ihm eine Lektion erteilen konnte. Ich fieberte vor innerer Erregung, gleichzeitig spürte ich etwas wie Angst. Keine Angst vor Kolczyk und seinem Widerstand, sondern Angst davor, dass ich zu heftig zuschlagen und ihn töten könnte.
Da! Ich schreckte hoch, im Wohnzimmer war das Licht angegangen. Jemand kam herein und stellte eine silberne Schale mit Mandarinen oder Apfelsinen auf den Tisch. Eine Frau, zwischen vierzig und fünfzig, ein wenig füllig, ein bisschen Studienrätin, ein bisschen Genossin, andererseits auch wieder auffallend mütterlich. Das graue Kostüm, das sie trug, ließ sie älter und massiger erscheinen, als sie eigentlich war. Ihre Züge hatten etwas Slawisches, das mich faszinierte. Im ersten Moment hielt ich sie für irgendeine Verwandte oder auch die Haushälterin, dann aber, als sie eine Art Safe öffnete und ein halbes Dutzend Geldscheine herauszog, wurde mir schlagartig klar, dass es sich um Kolczyks Frau handelte.
Ich will mich durchaus nicht entlasten, aber so wie sie habe ich mir immer meine Mutter vorgestellt. Sie können sich die Bilder, die mir von meiner Mutter geblieben sind, ja mal ansehen, dann werden Sie mir Recht geben. Jedenfalls stand mein Wunsch, in dieses Haus und von seinen Bewohnern aufgenommen zu werden, von nun an fest.
Dabei war ich mir völlig über das Widersprüchliche meiner Situation bewusst. Ich fühlte mich instinktiv zu dieser Frau hingezogen, und dennoch saß ich hier draußen im Wagen und wartete darauf, ihren Mann zusammenzuschlagen und damit auch ihr Schmerzen zuzufügen.
Doch ich konnte nicht mehr zurück, es musste sein! Einer von uns beiden, hatte er gesagt, und wenn ich ihn jetzt nicht bremste und einschüchterte, dann konnte ich meine eigene Beerdigung bestellen.
Jetzt war es achtzehn Uhr, im zweiten Programm des RIAS begannen sie mit den Sportnachrichten, aber immer noch keine Spur von Kolczyk. Ich hatte Mühe, meinen Zorn am Kochen zu halten.
Ich hatte mir gerade eine Zigarette angezündet, die fünfte bereits, als sich die Haustür öffnete und das Mädchen erschien, das mir schon bei meinem ersten Besuch aufgefallen war. Graziös wie eine Balletttänzerin lief sie zur Gartentür.
Vor dem Nachbargrundstück hielt ein großer Opel, ein Admiral. Ein gut gekleideter Herr stieg aus.
„Guten Abend, Fräulein Kolczyk!“, rief er über den Zaun. „Die besten Empfehlungen an den Herrn Papa!“ Dann verschwand er in seiner Garage.
Fräulein Kolczyk, seine Tochter also!
Die Sekunde, die auf diese Erkenntnis folgte, ist wohl die entscheidende in meinem Leben gewesen.
Jäh schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Das ist die Lösung – du musst sie heiraten, dann hast du es geschafft, dann kann dir nichts mehr geschehen!
Sie stieg in den Mercedes ihres Vaters und fuhr los, ich folgte ihr ganz mechanisch, ganz von selbst.
Ein genialer Schachzug! Mit einem einzigen Zug konnte ich eine Unmenge von Zielen erreichen. Zuerst einmal begehrte ich sie, heftig sogar. Ich hatte schon immer ein Faible für diese langbeinigen, überschlanken Geschöpfe gehabt, mit diesem Hauch von Lolita-Verworfenheit. Außerdem – und das war nicht weniger ins Gewicht fallend – wurde ich damit Mitglied dieser Familie, dieses Clans, konnte in diesem Haus aus- und eingehen und mich von dieser in sich ruhenden Frau bemuttern lassen. Ganz zu schweigen davon, dass ich als Kolczyks Schwiegersohn in den Genuss seiner Beziehungen kam. Schließlich – und das war wohl das Ausschlaggebende – hatte ich mit diesem Zug ein ewiges Patt, wenn nicht gar den Sieg über Kolczyk errungen. Was blieb ihm dann noch anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen? Wenn seine Tochter mich liebte, dann würde er niemals die Kraft haben, sein und ihr Leben mit einer Anzeige zu zerstören, das war sicher. Wenn es mir also gelang, dieses Mädchen zu gewinnen, dann war er vollkommen machtlos, dann konnte ich ihm praktisch auf der Nase herumtanzen.
Fast tat sie mir leid, dass sie auf diese Art zur bloßen Figur in einem teuflischen Spiel werden sollte, das hatte sie bestimmt nicht verdient. Aber was half’s – er oder ich! Und sie hatte ja eine faire Chance, sie brauchte mich nur abzulehnen. Schließlich wollte ich sie nicht entführen oder vergewaltigen.
Inzwischen rollten wir schon die breite Straße Unter den Eichen entlang und näherten uns dem Botanischen Garten. Ich hielt mich dicht hinter ihr, was aber bei dem immer noch lebhaften Verkehr nicht auffiel. Ab und zu suchte ich Deckung hinter den gelben Bussen der Linie 48 oder hinter Lastzügen, die vom Zehlendorfer Kleeblatt kamen und in die Innenstadt wollten. Mein weiteres Vorgehen hatte ich schon in allen Einzelheiten festgelegt.
Kurz hinter dem hellen Schlosspark-Theater war es dann so weit. Ich überholte ihren Wagen, schnitt sie etwas, fuhr ein Stückchen vor ihr her, wartete ein paar Sekunden, schaltete in den zweiten Gang hinunter und bremste urplötzlich. Und es gelang! Mein Oberkörper lag noch auf dem Lenkrad, als es hinter mir schepperte. Ein kleiner Stoß warf mich nach hinten in das Polster.
Wir lenkten die Wagen an den Straßenrand und stiegen aus, um uns den Schaden zu besehen. Ein zauberhaftes Mädchen! Dunkle Haare, dunkle Augen, lange Wimpern, eine schmale Nase, eine hohe Stirn, Lippen mit Perlmuttglanz, niedliche Zähnchen, ein reizend aufreizendes Kinn. Ein süßer Fratz! Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle geküsst.
Sie war sehr unglücklich.
„Mein Gott, auch das noch! Mein Vater wird in Ohnmacht fallen, wenn er das sieht!“
„Seien Sie doch froh, wenn er in Ohnmacht fällt, dann kann er wenigstens nicht mehr schimpfen.“
Ein Augenaufschlag, ein prüfender Blick. Sie spielte mit dem Glas ihres zersplitterten Scheinwerfers. „Ich hatte gerade über was nachgedacht ...“
„Ich nicht, aber von diesem Augenblick ab werde ich das bis an mein Lebensende tun ...“ Ich warf meinen ganzen Charme in die Waagschale. „Die Schuld trifft mich wahrscheinlich – ich hätte nicht bremsen dürfen ...“
Sie war verwirrt. „Ja, aber ... Ach, der schöne Wagen!“
C’est le premier pas qui coûte ... Ja, der erste Schritt entscheidet wohl immer, und ich hatte Angst, ihn zu tun. Doch schließlich, als wir schweigend die zerbeulten Stoßstangen gemustert hatten, sagte ich mit gepresster Stimme: „Hundert Meter weiter ist ein Café ... Hier ist es zu kalt ... Vielleicht sollten wir uns da reinsetzen und alles in Ruhe besprechen ...?“
Sie zögerte ein, zwei Sekunden, dann sagte sie kühl und immer noch etwas abwesend: „Das dürfte wohl das Beste sein ...“
11.