Verschollen in der Höllenschlucht. Sandy Palmer
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„Woher kommen S' denn?“, erkundigte sich der Toni und bemühte sich, ein verhältnismäßig reines Hochdeutsch zu sprechen.
„Ich komme aus Hannover“, erklärte der Fremde. „Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle“, setzte er dann hinzu. „Steinhaus, Professor Theodor Steinhaus.“
„Angenehm“, nickte der Toni und ergriff die Hand des Professors, die dieser ihm reichte. „Was führt Sie denn zu mir?“, erkundigte er sich dann, weil er sich nicht erklären konnte, was er mit diesem Preußen gemein haben könnte.
„Sie sind doch Bergsteiger“, begann der Professor ein wenig umständlich.
„Sicher. Der einzige hier im Dorf.“
„Man hat es mir gesagt. Und in Ihrer Eigenschaft als Bergsteiger oder Bergführer brauche ich Sie“, erklärte der Professor.
Einen Augenblick lang wusste der Toni nicht, was er sagen sollte. Er musterte das spindeldürre Männchen, das da vor ihm stand, nur ein wenig skeptisch.
Wie will der eine anstrengende Bergtour überstehen?, fragte sich der Toni. Der sieht ja aus, als könne er nicht einmal ein Seil tragen, geschweige denn sich abseilen.
„Sie wollen in die Berg steigen?“, erkundigte er sich sicherheitshalber noch einmal.
„Ich selbst nicht unbedingt“, erwiderte Professor Steinhaus. „Und ich will nicht in die Berge, sondern in die Höllenschlucht.“
„Das ist ja noch viel gefährlicher“, entfuhr es dem Toni. „Naa, Herr Professor, den Gedanken können Sie sich aus dem Kopf schlagen. Dahin nehm‘ ich Sie net mit. Das ist eine Tour, die nur Experten gehen können.“
„Ich muss aber in die Höllenschlucht“, beharrte der Professor, und der Toni dachte bei sich, dass der Preuß ungeheuer stur und unvernünftig sei.
„Es geht net“, sagte er deshalb noch einmal. „Der Weg da ‘runter ist zu gefährlich.“
„Würden Sie sich denn zutrauen, ihn zu gehen?“ Professor Steinhaus sah den jungen kräftigen Burschen gespannt an.
Toni nickte.
„Zutrauen würde ich mir es schon, aber darum reißen täte ich mich net“, meinte er. „Der Weg ist halsbrecherisch steil, und es ist auch für mich net ganz ungefährlich, da hinabzusteigen.“
„Ich kenne das Gelände“, sagte Professor Steinhaus. „Ich weiß genau, wie es beschaffen ist. Schon seit zwei Jahren befasse ich mich mit der Höllenschlucht.“
„Wie soll ich denn das verstehen?“, erkundigte sich der junge Bergsteiger, der sich auf diese Worte keinen Reim machen konnte.
„Ich bin Geologe“, gab der Fremde endlich eine Erklärung ab, „und in der Höllenschlucht vermute ich besondere Vorkommen. Deshalb beschäftige ich mich schon solange mit dieser Gegend hier.“ Er machte eine umfassende Handbewegung über die ganze Umgebung hin.
„Und was habe ich damit zu tun?“, wollte Toni wissen.
„Sie sollen mich in die Höllenschlucht führen“, meinte Professor Steinhaus. „Ich will von dort Gesteinsproben haben. Diese sind für meine Forschungen von größter Bedeutung.“
Toni schüttelte den Kopf und verbiss sich krampfhaft ein Lächeln. Die Vorstellung, mit diesem kleinen dünnen Männchen in die Höllenschlucht steigen zu müssen, war zu amüsant. Doch er erkannte, dass es dem 'Professor mit seinem Ansinnen Ernst war, und so versuchte er, ihn umzustimmen.
„Ich habe Ihnen schon gesagt, dass es ein gefährlicher Weg da hinab ist“, sagte er. „Allein würde ich es wagen, doch mit Ihnen nie und nimmer. Da könnte ich die Verantwortung net dafür übernehmen.“
Eine Weile ging der Professor sinnend hin und her. Er schien den Toni ganz vergessen zu haben, der ihn abwartend anschaute. Schließlich aber blieb der Preuße ruckartig vor dem Toni stehen und sagte in bestimmtem Ton: „In Ordnung, dann gehen Sie eben allein, wenn ich Ihnen nur eine Last bin.“
Toni glaubte im ersten Moment, nicht richtig gehört zu haben. Was sagte dieser Preuß da? Wagte er es, über ihn zu bestimmen? Er war zwar arm, doch von keinem Menschen auf der Welt abhängig. Das hatte ihn schon immer mit Stolz erfüllt, und diese persönliche Freiheit wollte er auch unter keinen Umständen aufgeben.
„Ich glaube, jetzt haben wir zwei uns net richtig verstanden“, wandte er ein.
„O doch“, widersprach Professor Steinhaus und reckte sich ein wenig, damit er Toni in die Augen sehen konnte. „Ich habe gerade gesagt, dass Sie für mich in die Höllenschlucht steigen werden. Gegen Bezahlung, selbstverständlich.“
Nun fand der Toni den Professor aus Preußen gar nicht mehr so spinnig, im Gegenteil. Gegen ein angemessenes Honorar war er schon bereit, diesen Weg anzutreten. Dennoch wandte er ein: „Das Risiko ist groß, das ich eingehen werde!“
„Ich weiß, doch es soll Ihr Schaden nicht sein.“ Professor Steinhaus zückte seine Brieftasche und entnahm ihr fünf nagelneue Hundertmarkscheine. Diese reichte er dem jungen Burschen.
Zunächst glaubte der Toni, seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Eine solche Geldsumme auf einmal hatte er nur selten in Händen, und besitzen tat er sie erst recht nicht. Hastig griff er danach.
„Das ist die Anzahlung“, sagte Professor Steinhaus da, und dem Toni drohten die Augen aus den Höhlen zu treten vor lauter Überraschung. „Wenn Sie mir genügend Gesteinsproben mit heraufgebracht haben aus der Höllenschlucht, dann bekommen Sie dieselbe Summe noch mal.“
Hatte der Tanner Toni im Stillen noch ein wenig gezögert, weil er sich der Gefahr, in die er sich begab, genau bewusst war, dann zauderte er jetzt keine Sekunde mehr. War das Risiko auch groß, die Bezahlung war es auch. Und das war im Endeffekt entscheidend.
„Einverstanden“, sagte der Toni schnell, damit es sich der Professor nicht noch einmal überlegen konnte. Bei den Preußen wusste man ja nicht so genau, wie sie in ihren Reaktionen waren und ob sie bei einem einmal geschlossenen Pakt auch blieben.
„Wann können Sie sich denn auf den Weg machen?“, fragte der Professor jetzt und strich sich eine Strähne seines weißen Haares aus dem Gesicht.
„Wann immer Sie wollen. Sie haben mich ja engagiert.“
„So schnell wie möglich“, sagte der alte Mann da. „Ich komme mit meinen Untersuchungen und Ausrechnungen nicht weiter, wenn ich die Gesteinsproben nicht habe.“
Dem Toni schoss der Gedanke durch den Kopf, dass er der Monika nichts von dieser gefährlichen Tour erzählen durfte, sie würde sich nur ängstigen und ihn wahrscheinlich flehentlich bitten, diesen gewagten Kletterpart nicht zu unternehmen. Aber er brauchte dieses Geld, brauchte es sogar ganz dringend. Er hatte sich vorgenommen, sein Häusl so schön wie irgendmöglich zu machen. Vielleicht war es ihm mit diesen tausend Markerln sogar möglich, einen Raum anzubauen, damit die Moni nicht gar so beengt leben musste, wo sie ein so stattliches Heim von zu Hause her gewöhnt war.
Toni war dumpf entschlossen, diesen gefährlichen Auftrag auszuführen, und zwar heimlich.