Mitternachts-Thriller Sammelband 4001 - Vier Romane um Liebe und Geheimnis Juli 2019. Jan Gardemann
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Die Mauern waren hoch und wuchtig. Beinahe wirkten sie etwas einschüchternd und abweisend. Rankpflanzen hatten sich am Mauerwerk festgesetzt und manche Stücke völlig überwuchert. Anderswo waren die Steinquader so blank und nackt, als ob das Lebendige diese Bereiche zu meiden schien.
Ich fuhr den roten Mercedes 190 in den großen Burghof, in dem bereits mehrere andere Fahrzeuge unterschiedlichster Qualität abgestellt waren.
Wir stiegen aus.
Es war geplant, dass wir ein oder zwei Nächte hierblieben.
Gilford Castle hatte Räumlichkeiten genug dafür, um jede Menge Gäste zu beherbergen.
"Lassen wir unser Gepäck erstmal im Wagen!", meinte ich.
"Nichts dagegen!", erwiderte Jim, der bereits fleißig damit beschäftigt war, Fotos zu schießen. Immer wieder klickte sein Apparat. "Eine fantastische Kulisse", meinte er. Und dann fiel sein Blick auf eine eigenartige Statue.
Eigenartig war sie deshalb, weil sie einen Römer mit Speer, Helm und Tunika darstellte, der sich vom Stil her so gar nicht in das eher mittelalterliche Gepräge einfügen wollte.
"Wer hat den denn da hingestellt!", meinte Jim kopfschüttelnd. "Jedenfalls wohl nicht die normannischen Ritter, die hier einst Hof gehalten haben dürften!"
Ich zuckte die Schultern.
"Wer weiß, wer hier über all die Jahrhunderte hinweg residiert hat und seinen persönlichen Geschmack mit einzubringen versucht hat ..."
"Ich zum Beispiel!", rief eine Stimme von dem hohen Treppenportal herab, das zum Eingang des Haupthauses führte.
Wir drehten uns beide herum und erblickten einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann in dunklem Hemd und dunkler Hose. Sein Gesicht war fein geschnitten, die Wangenknochen hoch und auf seinen Lippen lag ein charmantes, gewinnendes Lächeln.
Ein Lächeln, das ich von meinen alten Postern her noch gut kannte.
Robert Clayton!
Ich dachte daran, wie sehr ich mir als junges Mädchen gewünscht hätte, ihm so nahe zu sein, wie es jetzt der Fall war, ihm sogar die Hand zu geben ...
Mein Gott!
Inzwischen stand ich natürlich über den Dingen. Zumindest hatte ich mir das eingeredet.
Als er zu uns herabgekommen war und uns die Hand gegeben hatte, musste Jim uns vorstellen. Mir saß einfach ein Kloß im Hals und ich war einige Augenblicke lang unfähig,etwas zu sagen.
Er hatte sich verändert.
Irgendwie schien er mir reifer geworden zu sein, als er auf den Postern gewirkt hatte. Die Haare waren kürzer und das Gesicht war markanter geworden. Nur die Augen und das Lächeln waren geblieben.
Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich ihm hier begegnen würde – vielleicht hätte ich ihn überhaupt nicht erkannt!, ging es mir durch den Kopf.
"Nennen Sie mich Robert", sagte er freundlich. "Das machen alle hier ..."
"Alle?", echote ich etwas verständnislos.
"Ja, es sind immer eine Menge Leute hier auf Gilford Castle."
Sein Lächeln bekam etwas Schelmisches. "Und was den Römer dort angeht, den habe ich anfertigen lassen ..."
"Oh ..."
"Sie halten mich jetzt für einen Banausen, was, Patricia?"
"Nun ..."
"Mein Respekt vor diesen alten Mauern hält sich in engen Grenzen. Es ist einfach ein Haus und viele derjenigen, die hier vor mir gelebt haben, haben das ähnlich gesehen ..." Er sah mich an. Der ruhige Blick seiner braunen Augen musterte mich einen Moment. Dann meinte er: "Haben Sie Gepäck?"
"Im Wagen."
"Charles, der Butler kann sich darum kümmern. Geben Sie ihm einfach den Schlüssel. Er wird Ihnen auch Ihre Zimmer zeigen ..."
"Haben Sie vielen Dank!", meinte Jim.
Und ich sagte: "So, einen Butler haben Sie auch?"
"Ich habe ihn vom Vorbesitzer übernommen und es nicht fertiggebracht, ihn zu entlassen."
"Ist schon erstaunlich ... Ein Rocker, der wie ein Landlord lebt ..."
Robert lachte auf.
"Ich habe seit fünf Jahren keine Gitarre mehr angefasst, geschweige denn einen Ton gesungen."
"Warum eigentlich nicht?", fragte ich.
Seine Stirn umwölkte sich leicht, und ich war mir nicht klar darüber, ob ich nicht vielleicht einen Fehler gemacht hatte, ihn das jetzt so unvermittelt zu fragen. Ich schien einen wunden Punkt berührt zu haben.
Sein Lächeln wirkte jetzt etwas gezwungen.
"Eine Frage, die ich mir auch oft gestellt habe!", sagte er dann und seufzte dabei, so als würde er eine schwere, wenngleich unsichtbare Last auf dem Rücken spüren.
"Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?", hakte ich nach.
Ich musste es einfach wissen. Ich musste wissen, warum das Idol meiner Jugend es plötzlich vorgezogen hatte, ein ganz normaler Mann zu sein.
Er zuckte die Achseln.
"Wir waren alle sehr jung damals in der Band. Und der Erfolg war so überwältigend, dass er uns mehr oder weniger wohl zu Kopf gestiegen ist. Einige sind damit auch nicht klargekommen. Ich zwischenzeitlich auch nicht. Irgendwann lief dann das Fass über. Eine schöpferische Krise kam hinzu. Mir fielen einfach keine vernünftigen Songs mehr ein, und ich begann, meine Gitarre und das Studio zu hassen ... Ich brauchte einfach eine Pause zum Verschnaufen und um herauszufinden, wer ich wirklich war ..." Er sah mich an und wirkte jetzt beinahe etwas verlegen. "Vielleicht rede ich jetzt in Ihren Augen einfach nur Unsinn daher ..."
"Nein, das denke ich nicht."
"Jedenfalls kann ich inzwischen wieder durch die Straßen einer x-beliebigen Großstadt gehen, ohne dass mich jemand erkennt. Ich hatte ganz vergessen, wie schön das sein kann ..."
"Als junges Mädchen war ich ein Fan von Ihnen ..."
"Wirklich?", meinte er. "Der alte Robert Clayton ist tot", sagte er dann. "Der Mann, den Sie vor sich sehen, hat nichts mit dem zu tun, der auf den Postern in den Mädchenzeitschriften war!"
Wie schade!, dachte ich im ersten Moment. Aber nur im ersten. Dann fügte ich in Gedanken noch hinzu: Er ist nicht mehr der jungenhafte Robert Clayton, den ich anschwärmte – aber ich bin auch keine fünfzehn mehr ...
Und vielleicht gefiel mir der neue Robert Clayton, der jetzt und hier leibhaftig vor mir stand, sogar besser als jenes unnahbare Idol auf den Postern.