Das AK-Steiger-Prinzip. Anna Katharina Steiger
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Als mein Vater abends gegen 22.00 Uhr nach Hause kam, ahnte er natürlich nichts von dem, was passiert war, denn damals gab es noch keine Möglichkeiten, ihn unterwegs zu erreichen. In der neuen Wohnung gab es noch kein Telefon und Mobiltelefone waren noch nicht erfunden. Als er die Wohnung betrat, war er sehr verwundert über die gesamte Verwandtschaft, die in unserem Wohnzimmer saß, und sagte: „Was ist denn hier für eine Familienfeier?“
Plötzlich Einzelkind
Mein Bruder und ich waren bislang typische Geschwister gewesen. Durch den großen Altersunterschied (mein Bruder war zehn Jahre älter als ich), waren wir ein bisschen wie Hund und Katz, wir konnten nicht miteinander, und noch viel weniger ohne einander. Trotzdem hatten wir ein gutes Verhältnis, wir tobten viel und er benutzte mich manchmal als Alibi, wenn er mit seiner Freundin ins Kino wollte. „Wir nehmen meine Schwester mit“, sagte er häufig meinen Eltern, und so kam ich als Kind in den Genuss von Kinobesuchen und mein Bruder konnte währenddessen mit seiner Freundin turteln.
Damals musste ich die Situation, jetzt ohne meinen Bruder zu sein, für mich erst einmal verarbeiten und ich weiß noch, wie ich zwei Tage nach dem Tod meines Bruders, in den Händen einige seiner Sachen, zu meiner Mutter sagte: „Mama, das gehört jetzt alles mir.“ Mein Bruder war nicht mehr bei uns und brauchte seinen Kassettenrekorder nicht mehr, daher war es für mich – als Achtjährige - die logische Konsequenz, Besitzansprüche zu erheben, wo wir doch bis dahin, sowieso das Meiste geteilt hatten.
In der folgenden Zeit war ich viel alleine, mein Vater vergrub sich in der Arbeit, meine Mutter in die Trauer. Gefühlt war sie mehr auf dem Friedhof als zuhause. Der Umzug erfolgte trotz allem und die neue Umgebung, eine neue Schule und neue Menschen machten diese Situation für uns alle nicht leichter. Von psychologischer Betreuung wurde damals noch nicht gesprochen. Heute ist es für Eltern und Geschwister selbstverständlich, in solchen Fällen Hilfe zu erhalten.
Von einem Tag auf den anderen war ich nun ein Einzelkind und mein freies und unbeschwertes Leben hatte ein Ende. Meine Eltern überwachten und beschützten mich, wo sie nur konnten. Sie packten mich in Watte und schlossen mein Fahrrad weg, sie wollten mich nicht auch noch verlieren. Ich versuchte, so oft ich konnte, aus der Situation, die mich erdrückte, auszubrechen. Ich fühlte mich eingeengt und fremdbestimmt und im Nachhinein habe ich meine Eltern bestimmt einige Nerven gekostet.
Wieder zurück
Nach 18 Monaten kehrten wir zurück, weil wir Heimweh hatten und meine Eltern nicht warm wurden in der neuen Umgebung. Die alten Freunde und die alte Schule waren noch da und der Platz neben meiner besten Freundin war natürlich für mich frei. So vergingen einige Jahre. Ich gewöhnte mich an meine Einschränkungen, die meinen Alltag bestimmten. Meine freie, unbeschwerte Kindheit war vorbei.
Die Bewachung und Überwachung setzten sich als Teenager fort. Mit wem ich unterwegs war, wohin ich wollte, was ich machte, mit welchen Jungs ist mich traf wurde zunehmend Thema, denn es sollte ja direkt der “Richtige” sein. Ausprobieren durfte ich mich nicht. Alles wurde streng überwacht und im Zweifel auch überprüft. Verstöße wurden hart sanktioniert. Auch wenn ich immer wieder aufbegehrte, ließ ich mich meist, um den Sanktionen aus dem Weg zu gehen, fremdbestimmen.
Erst Jahre später kam mir wieder ein Satz in den Sinn, den ich mehrfach von meiner Mutter damals gehört hatte: „Du bist die Falsche!“ Sie war damals anscheinend tatsächlich der Meinung, es wäre besser gewesen, wenn ich gestorben wäre, anstatt meines Bruders. In ihrer Trauer mit einem mehr als aufmüpfigen Teenager vielleicht noch verständlich, trotzdem waren es harte Worte. Anfangs habe ich überhaupt nicht verstanden, was sie damit meinte, und natürlich hat sich dieser Glaubenssatz in mir breit gemacht und sich über Jahre hinweg gefestigt. Damals wusste ich nicht, wie ich mit einer solchen Äußerung umgehen sollte. Als Kind nimmt man die Dinge, die die Eltern einem sagen, für bare Münze und so nahm ich auch diese Aussage hin. Mir war nicht klar, dass mein Unterbewusstsein fortan dafür sorgen würde, dass alles was ich tat, in den Augen der Anderen falsch war, dass ich als Person „falsch“ war.
Später in meinem Leben, als ich erkannte, was meine Mutter hier in mich „eingepflanzt“ hatte und ich mich endlich, nach vielen Jahren und mit viel Arbeit davon lösen konnte, gab es einen großen Streit, zu tief saßen die Verletzungen.
Zu meinem Vater hatte ich glücklicherweise immer ein wirklich sehr gutes Verhältnis, leider ist er vor einigen Jahren gestorben. Wir haben in meinen Kindertagen viel miteinander unternommen, auch wenn er immer viel arbeitete. Er hat mir viel beigebracht, auch handwerklich und ich denke heute, ich war sein Ersatz für den Sohn, den er nicht mehr hatte. Trotzdem war ich als Kind auch viel allein. Mein Vater arbeitete viel, auch damit wir uns ein Häuschen leisten konnten. Meine Mutter gab zur Mitfinanzierung ihr Hausfrauendasein auf und arbeitete erst halbtags, später ganztags als Verkäuferin.
Studium - und dann?
Es stand für meine Eltern absolut fest, dass ich nach dem Abitur studieren sollte. Schließlich sollte ich es besser haben als sie! Medizin sollte es werden, doch dazu reichte mein N.C. nicht. Als ich mich stattdessen für Elektrotechnik entschieden hatte, was meine Eltern argwöhnisch beäugten, schließlich war ich ein Mädchen, sollte es wenigstens unbedingt die Elite-Universität RWTH in Aachen sein. Damit war ich, um erstmalig wieder meine Freiheit zu genießen, weit genug weg vom Elternhaus, wenn auch nicht weit genug, um völlig der Fremdbestimmung meiner Eltern entfliehen zu können. Leider klappte das Studium nicht, wie ich es geplant hatte, und ich musste es nach vier Semestern abbrechen.
Meine Eltern erwarteten, dass ich nun zurück nach Hause komme, doch das kam für mich absolut nicht infrage. „Die Füße wieder unter den Tisch meines Vaters“ setzen, wollte ich auf gar keinen Fall. Ich hatte die Freiheit ein Stück weit genossen und wollte nicht mehr unter die “Befehlsgewalt” meiner Eltern. So suchte ich eine Ausbildungsstelle zur Bürokauffrau in Aachen. Ich erinnere mich noch an die Schwierigkeiten, die ich damals hatte, eine Ausbildungsstelle zu finden. In einem Möbelhaus hatte ich mich für die Ausbildung beworben und als der Geschäftsführer hörte, dass ich Abitur gemacht hatte, sagte er nur: „Mit Abitur können Sie ja noch nicht einmal einen Besen halten!“ Es waren definitiv damals andere Zeiten.
Letztendlich fand ich doch einen interessanten Ausbildungsplatz in einem Unternehmen, das sich mit Computern und später mit medizinischer Software beschäftigte. Schon während meiner Ausbildung durfte ich sehr viel Verantwortung übernehmen. Ich war damals gemeinsam mit einem der Geschäftsführer dafür zuständig, die Software, die das Unternehmen vertrieb, in Arztpraxen zu verkaufen, zu präsentieren und zu schulen.
Die Arbeit machte mir viel Freude und war anspruchsvoll, also genau mein Ding. Dabei lernte ich meinen zukünftigen ersten Mann kennen und als junge Menschen konnte es uns damals nicht schnell genug gehen. So heirateten wir schon kurze Zeit später. Das war jedoch das Signal für meinen damaligen Chef, dass ich wohl schwanger sein musste und so hatte sich die Übernahme in ein Angestelltenverhältnis erst einmal für mich erledigt. Da mein Bauch nicht rund wurde, wurde ich letztendlich doch übernommen. Damals glaubte ich „Hier wirst Du alt bis zur Rente“.
Das Leben nimmt seinen Gang
Nach der Ausbildung blieb ich also im Unternehmen und konnte in der medizinischen Software Fuß fassen und eignete mir sehr fundiertes Wissen an. Das blieb auch dem damaligen Softwarehersteller nicht verborgen und so warb er mich ab. Fortan war ich Fachberaterin in einem großen Teil Deutschlands, fuhr im Außendienst von Praxis zu Praxis und hatte großen Spaß an meiner Arbeit. Aus der Außendiensttätigkeit wurde schnell – für damalige Verhältnisse außergewöhnlich – ein Home-Office-Arbeitsplatz in der Dokumentation und ich schrieb