Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende. Manfred Krapf
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Lutz Leisering26 unterscheidet beim Ausbau des (west)deutschen Sozialstaates fünf Phasen, nämlich die Restauration (1949-1953), den Ausbau (1953-1975), die Konsolidierung (1975-1990), eine späte Expansion (1990-1995) und die Krise (ab 1995). Mitte der 1970er Jahre endete die Epoche der Expansion des Sozialstaates nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. Die erste Ölkrise 1973 und eine anschließende Rezession 1974/75 bildeten eine „Wendemarke“27 und den Beginn einer Politik der Konsolidierung und Kostendämpfung der Aufwendungen für Sozialpolitik. Als Fazit am Ende der Boomphase kann man in Bezug auf den deutschen Sozialstaat festhalten: Es blieb bei der „Vorherrschaft des Sozialversicherungsprinzips“, dessen Kern ein „System der Versicherung abhängiger Arbeit [bildete], das sich überwiegend durch bruttolohnbezogene Beiträge finanzierte und eine Familienkomponente aufwies, die vom Modell der Hausfrauenehe geprägt war“28.
Die beiden Ölkrisen 1973 und 1979 konnte Westdeutschland ungeachtet negativer Jahreswachstumsraten zwischen 1975 und 1982, einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit und einer Verdoppelung der Schuldenquote noch relativ glimpflich verkraften. Sozialpolitische Einschnitte fokussierten sich unter der seit 1974 amtierenden neuen Bundesregierung mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt auf Ausgabenkürzungen in der Arbeitsmarktpolitik und in der Arbeitslosenversicherung sowie später in der Rentenversicherung. Der Begriff „Krise“ tauchte seit den 1970er Jahren als Fixpunkt der sozialpolitischen Diskussion auf, wobei sich bereits strukturelle Krisenfaktoren abzeichneten.29 Ein demographischer Wandel, ein verändertes Selbstverständnis der Frauen gerade im gebärfähigen Alter oder die „Transformation der Erwerbsgesellschaft“, die die menschliche Arbeitskraft zurückdrängte, seien hier nur kurz genannt.
Ungeachtet des Endes der sozialstaatlichen Boomphase und des aufkommenden Krisendiskurses konnte von einem Stillstand in der Sozialpolitik nicht die Rede sein. 1976 begann die sukzessive Einführung des zusammenfassenden Sozialgesetzbuches, von dem bis zur Gegenwart zwölf Bücher erschienen sind. Das lange diskutierte Mitbestimmungsgesetz von 1976 war ein weiterer sozialpolitischer Baustein, wenngleich es die von den Gewerkschaften geforderte volle Parität in den Aufsichtsräten nicht verwirklichte. In den 1980er Jahren in der Ära Bundeskanzler Kohls erfolgte zwar ein gewisser Rückbau des Sozialstaates verbunden mit weiteren Kürzungen sowie mehr Flexibilität am Arbeitsmarkt und mehr Selbstbeteiligung der Versicherten, dennoch gab es auch zukunftsweisende Neuerungen wie 1986 die Einführung des Erziehungsurlaubs.
Die Frühverrentung mit ambivalenten Folgewirkungen wurde ebenfalls ermöglicht. In Reaktion auf den sozialen und demographischen Wandel kam es 1995 zur Einführung der Pflegeversicherung als der nunmehr fünften Säule der Sozialversicherung. Neu war deren Finanzierung, denn die Arbeitnehmer trugen durch Mehrarbeit infolge der Streichung eines bisher gesetzlichen Feiertags den Arbeitgeberbeitrag faktisch mit.
Die deutsche Wiedervereinigung im Jahre 1990 brachte die nahezu vollständige Ausweitung des bundesrepublikanischen Sozialstaates auf das Gebiet der ehemaligen DDR durch den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion vom 1. Juli 1990.30 In der Folgezeit belastete vor allem die Arbeitslosigkeit die sozialen Sicherungssysteme. Die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung wurden in Ostdeutschland anstelle der als Einheitsorganisation zusammengefassten Sozialversicherung neu und eigenständig eingerichtet: Im Gesundheitswesen wurde das bisherige kostenlose System in ein beitragsbasiertes Versicherungssystem mit zahlreichen Krankenkassen umgebaut, in der Rentenversicherung waren u.a. Transferzahlungen notwendig, um das niedrige ostdeutsche Niveau anzuheben.
Weitere Transformationen betrafen die Arbeitsbeziehungen mit dem Aufbau echter Gewerkschaften und dem Tarifwesen. Blickt man auf die Kosten der deutschen Vereinigung, verlief die „Wiedervereinigung im Sozialversicherungsmodus“31, d.h. sie wurde vorrangig durch Sozialversicherungsbeiträge finanziert. Zur Abfederung der enormen Begleiterscheinungen des fast vollständigen Zusammenbruchs der ostdeutschen Wirtschaft übernahm der Sozialstaat „hier eine Schlüsselrolle“32. Zum Krisenmanagement in Ostdeutschland zählten die Ausweitung der Frühverrentung und eine aktive Arbeitsmarktpolitik vor allem mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Die Finanzierung der Wiedervereinigungskosten vor allem durch die Sozialversicherung wird heftig kritisiert, so sei es nach Gerhard A. Ritter „widersinnig, dass ein erheblicher Teil der deutschen Einheit auf die Solidargemeinschaften der Arbeitslosen-, der Renten- und seit Ende der 1990er Jahre auch der Krankenversicherung verlagert wurde“33. Letztlich habe die Sozialversicherung diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe übernommen. Eine Folge dieser „verfehlten Finanzierung“ war die Erhöhung der Lohnkosten und eine „überproportionale Belastung der Unterschichten“.
Infolge der Bewältigung der Einigungslasten stieg die Sozialleistungsquote der Bundesrepublik innerhalb weniger Jahre auf über 26 %. Die Übernahme des bundesrepublikanischen Sozialversicherungssystems auf die neuen Bundesländer erforderte enorme Transferleistungen, die sich allein in den Jahren von 1991 bis 1994 auf rund 240 Mrd. DM beliefen.34 Allein um die Zahlungsfähigkeit der Renten- und Arbeitslosenversicherung im Jahr 1993 beispielsweise zu sichern, waren insgesamt 50 Mrd. DM als Transfer erforderlich, was rund drei Prozent Beitragspunkte in der Sozialversicherung entsprach. Nach dem Ende des Vereinigungsbooms 1993 betrieb die Regierung Kohl wieder eine nachhaltigere Kürzungspolitik in der Sozialpolitik (z.B. in der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bei der Arbeitslosenhilfe oder bei Leistungen für Asylbewerber).
In den 1990er Jahren intensivierten sich die Reformdebatten vor dem Hintergrund eines immer mehr sich abzeichnenden demographischen Wandels und einer zunehmend global verflechtenden wirtschaftlichen Entwicklung. Die Krise des deutschen Systems der sozialen Sicherheit in den 1990er Jahren war durch die Wiedervereinigungskosten mitgeprägt, diese bildeten aber nicht die ausschlaggebende Rolle.35 Vielmehr handelte es sich um strukturelle Ursachen, die die Arbeitsgesellschaft betrafen, d.h. einen wachsenden Grundbestand an Arbeitslosen, insbesondere Dauerarbeitslosen, die Alterung der Industriegesellschaften mit ihren Folgen für die Alterssicherung und das Gesundheitswesen bzw. die Pflege, die Veränderung der Familienstrukturen bzw. der Lebensformen und des Rollenverständnisses der Frauen.
Festzuhalten ist, die „wohl schwerwiegendste Herausforderung ist die Krise der Arbeitsgesellschaft“ mit ihren Auswirkungen auf das System der sozialen Sicherheit wie es in Deutschland bestand. Ein „Dauerbrenner“ in diesem Krisendiskurs waren die zahlreichen Gesundheitsreformen seit den späten 1970er und den 1980er Jahren mit den Versuchen, die Effizienz im System zu steigern, die Kostenexplosionen zu bremsen und zu einer Beitragssatzstabilität zu gelangen.36 Es seien hier nur stichpunktartig genannt das Gesundheits-Reformgesetz 1989 mit u.a. mehr Zuzahlungen, Abbau von Überversorgungen, das Gesundheitsstrukturgesetz 1993 u.a. mit Begrenzung der Arztzahlen und einer Ausgabenbudgetierung, das GKV-Gesundheit-Reformgesetz von 2000 und das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004, das Einschnitte im Leistungskatalog beinhaltete und das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz von 2007 mit dem neuen Gesundheitsfonds, der Beitragsfestsetzung durch die Bundesregierung, der Einführung des Zusatzbeitrags nur für die Versicherten usw. Letztendlich handelte es sich hier durch das Abweichen von der bislang paritätischen Beitragsfinanzierung um eine partielle Abkehr vom bisherigen Sozialstaatsmodell, das auf der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer basierte.
Die Gesundheitsausgaben sind in den letzten 30 Jahren aber insgesamt stärker gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt. Letztlich