Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende. Manfred Krapf
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49 Nullmeier, Sozialstaatsentwicklung, S. 189; vgl. zur Arbeitsmarktpolitik der ersten Großen Koalition Merkel auch Kathrin Dümig, Ruhe nach und vor dem Sturm: Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Großen Koalition, in: Christoph Egle/Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005-2009, Wiesbaden 2010, S. 287, demzufolge „es in der aktiven Arbeitsmarktpolitik zu keinem substantiellen Politikwechsel“ gekommen sei.
50 Vgl. Meusch, Sozialpolitik, S. 702.
51 Ritter, Soziale Frage, S. 128.
52 Vgl. Schmidt, Sozialstaat, S. 43ff.
II. Zum Begriff und Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates
Die folgenden beiden Abschnitte wollen in knappen Zügen den Gegenstand „Sozialstaat“ in seiner Begrifflichkeit sowie seinen tragenden Grundprinzipien erfassen.
1. Zum Begriff des Sozialstaates
Wir sprechen in dieser Arbeit vom Sozialstaat in Deutschland und verwenden nicht den vor allem im angelsächsischen Raum gebräuchlichen Terminus Wohlfahrtsstaat bzw. welfare state, der noch an die Wohlfahrtspflege aus der vordemokratischen Epoche des aufgeklärten Absolutismus erinnert.53 Demgegenüber wird hier betont, dass der moderne, voll ausgeprägte Sozialstaat „eine besondere Form der Massendemokratie“ ist, wenngleich einzelne Elemente des Sozialstaates durchaus in vordemokratischen Staaten und planwirtschaftlich organisierten Staaten, autoritären Staaten oder faschistischen Diktaturen zu finden sind. Sozialpolitik als Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erlebte immer wieder einen Definitionswechsel. Dies galt auch für Deutschland als Pionierland der Sozialpolitik, wo seit Bismarcks Zeiten immer wieder Bezeichnungen auftauchten wie „Soziale Frage“, „Arbeiterfrage“ oder „Sozialstaat“. Letztlich ist der Begriff Sozialpolitik heute sehr umfassend angelegt, denn er beinhaltet neben staatlicher Sozialpolitik die Sektoren Markt, Verbände und Familien sowie andere Politikfelder wie z.B. Bildungspolitik oder regionale Wirtschaftsförderung oder Arbeitsbeziehungen.
Der Begriff des Sozialstaates ist in Deutschland wohl auf Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, der die Bezeichnung „soziale Demokratie“ und den Terminus des „sozialen Staates“ verwendete. In der Weimarer Republik sprach man vom „Sozialstaat“ in einem positiveren Sinne. Der moderne Sozialstaat, der sich begrifflich nach 1945 im (west)deutschen Sprachgebrauch endgültig durchgesetzt hat, beinhaltet die „wesentlichen demokratischen Elemente der Gleichheit und Selbstbestimmung der Staatsbürger“. Der Terminus „Sozialstaat“ vermeidet Anklänge an eine paternalistische Wohlfahrt aus der Zeit des Absolutismus, die die bürgerliche Freiheit beschränkte.
Schließlich ist die Dominanz des Begriffs „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch ein Resultat negativer Assoziationen des Begriffs „Wohlfahrt“, der an das wenig erfreuliche Schicksal der sog. Wohlfahrtserwerbslosen in der großen Krise in der Endphase der Weimarer Republik Anfang der 1930er Jahre erinnerte. Ebenfalls spielte die Erinnerung an die völkisch ausgerichtete NS-„Volkswohlfahrt“ eine Rolle bei der Vermeidung des Wohlfahrtsbegriffes. Die Dominanz der Terminologie „Sozialstaat“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Gegenwart ist darüber hinaus auch auf das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip zurückzuführen. Schließlich beinhaltet „welfare state“ zumeist nicht das im deutschen Sozialstaat wichtige Arbeitsrecht, so dass der Begriff „Sozialstaat“ letztendlich eine spezifische deutsche Tradition verkörpert und hier vorrangig Verwendung findet.54
Zu den Eigenarten des deutschen Sozialstaats zählt Franz-Xaver Kaufmann55 die Verbindung zwischen Staatlichkeit und Sozialstaat, denn historisch gesehen ist die Entstehung der Sozialversicherung in Deutschland auf staatspolitische Überlegungen zurückzuführen, d.h. die sozialpolitische Aufgabe konzentrierte sich auf die Befriedung des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeit. Des Weiteren ist in Deutschland im Unterschied etwa zu Schweden oder Großbritannien, wo man den Arbeitnehmerschutz als Angelegenheit der Tarifparteien betrachtet, das Arbeitsrecht Bestandteil sozialstaatlicher Regulierung. Ein weiteres deutsches Charakteristikum stellt die hohe Verrechtlichung der Sozialpolitik dar, die durch die spezifische Sozialgerichtsbarkeit und Arbeitsgerichtsbarkeit zum Ausdruck kommt.
Schließlich besteht das deutsche System der sozialen Sicherung aus vielfältigen und berufsgruppenspezifischen Komponenten, die ursprünglich nach einer Zuordnung als Angestellter oder Arbeiter differenziert waren. Entscheidendes Kriterium war die möglichst durchgehende Teilnahme am Produktionsprozess. Lutz Leisering56 unterscheidet einen Sozialstaat im engeren Sinn – die soziale Sicherung und das Arbeitsrecht – und einen Sozialstaat in einem weiteren Sinn – dazu zählend das Bildungswesen, die Wirtschafts- und Betriebsverfassung, die Arbeitsbeziehungen sowie die wachstums- und beschäftigungsbezogene Wirtschaftspolitik.
Die vorliegende Arbeit konzentriert sich – im Rahmen der klassischen Staatstätigkeitsforschung – auf Sozialpolitik als Staatstätigkeit, wobei für Deutschland, wie oben Kaufmann bereits betonte, die „historischen Wurzeln staatlicher Sozialpolitik [liegen] in der ungelösten Arbeiterfrage“57 liegen. Damit steht im Fokus die staatliche soziale Sicherung gegen die Lebensrisiken basierend auf der Erwerbstätigkeit, also staatliche Programme und Leistungen. Entsprechend mittlerweile zahlreichen ländervergleichenden Forschungen, die dem staatszentrierten Ansatz zu zuordnen sind, wird in der vorliegenden Studie im Hauptteil in Anlehnung an Köppe/Starke/Leibfried58 auf drei zentrale Indikatoren zur Beschreibung und Analyse des deutschen Sozialstaates zurückgriffen: Erstens eine Analyse der Sozialausgaben des Staates, zweitens die Erfassung der anspruchsberechtigten Personen (Versicherte, Leistungsempfänger) und schließlich drittens der Inhalt und die Ausgestaltung der sozialpolitischen Maßnahmen, d.h. der Leistungen.
Die genannten Autoren sprechen von dreifachen Entgrenzungen der Sozialpolitik, nämlich sektoraler, funktionaler und territorialer Art, und verwenden einen erweiterten Begriff von Sozialpolitik, um die Pluralität der Wohlfahrtsproduktion insgesamt zu erfassen. Denn neben dem Staat als den wichtigsten Produzenten agieren auch andere Akteure, Programme oder Angebote. Man spricht im Kontext der erweiterten Sozialpolitik von einem Wohlfahrtsmix, einem Wohlfahrtspluralismus oder einer Wohlfahrtsproduktion. Dabei wird zwischen den Sektoren Staat, Markt, Verbänden und Familien/Haushalten unterschieden, wobei sich die Sektoren verwischen. Unter einem erweiterten Begriff von Sozialpolitik subsumieren andere Forscher staatliche, fiskalische, marktförmige, freiwillige informelle und betriebliche Programme und betonen Privatisierungen und eine Vermarktlichung sozialpolitischer Aktivitäten. Man beschreibt sie als hybride Märkte mit sozialpolitischer Zielsetzung und bezeichnet sie als Wohlfahrtsmärkte (Beispiel: die Riesterrente).
Neben dieser sektoralen Entgrenzung läuft parallel die funktionale Entgrenzung, durch die immer mehr Politikfelder ins Blickfeld der Sozialpolitik geraten, d.h. Mittelstandspolitik, Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzpolitik oder Umweltpolitik. Zwar sei die „Vermeidung sozialer Risiken und Kompensation von Marktungleichheiten