Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende. Manfred Krapf
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Schließlich kam es nach langen Debatten zur endgültigen Einführung eines staatlichen, flächendeckenden und branchenübergreifenden Mindestlohns, wenngleich Minderjährige ohne Berufsausbildung bzw. Schüler, Auszubildende, Pflichtpraktikanten, Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten ihres Wiedereinstiegs, Ehrenamtliche und Zeitungszusteller davon ausgenommen wurden. Weiterhin erfolgte eine Ausweitung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung und familienpolitische Ergänzungen durch das Elterngeld plus sowie das umstrittene Betreuungsgeld.
Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Sozialausgaben in Deutschland geworfen, wobei die Epoche nach der Wiedervereinigung bzw. nach der Jahrhundertwende eine genauere Betrachtung unten im Abschnitt IV. 9 erfährt. Es werden dabei bis zum Ende der Regierungszeit Bundeskanzler Helmut Kohls, die den Anfang der hier interessierenden Epoche bildet, vier Phasen unterschieden:50
Für den Zeitraum von 1949 bis 1975 spricht man von einer Ausbauphase mit einer drastischen Steigerung der Sozialleistungsquote, die Jahre von 1975 bis 1990 werden als eine Phase der Konsolidierung mit einer steigenden Arbeitslosigkeit charakterisiert und von 1990 bis 1996 dominierte die deutsche Einheit mit der Übertragung des bundesdeutschen Sozialsystems auf die neuen Bundesländer. Seit 1997 begann noch eine von der damaligen Regierung Kohl eingeleitete Rückkehr zur Konsolidierung. Die Abfederung des enormen wirtschaftlichen Umbruchs in der ehemaligen DDR war verantwortlich für die „erneute sprunghafte Zunahme des Sozialbudgets, d.h. der Gesamtausgaben für soziale Leistungen“51: War das Sozialbudget von 1950 bis 1977 von 16,8 Mrd. DM auf 400 Mrd. DM gestiegen – die Quote von 17,1 % auf 34,0 % –, nahm es bis 1990 auf 743 Mrd. DM (= 29,2 %) und bis 1995 gar auf 1179 Mrd. DM (= 34,1 %) zu.
Resümierend zum Auf- und Ausbau des Sozialstaates in der Bundesrepublik Deutschland bis etwa in die 1970er Jahre rekapituliert Manfred G. Schmidt52 dessen Antriebskräfte: Zunächst ist die Ausgangssituation der Bewältigung der Kriegs- und Kriegsfolgelasten zu beachten, dann das hohe Wirtschaftswachstum, das die Finanzierung des Sozialstaates nachhaltig erleichterte. Des Weiteren beförderte die Alterung der Bevölkerung die Nachfrage nach sozialen Leistungen, die sich nicht nur in der Alterssicherung, sondern ebenfalls kostensteigernd in der Gesundheitsversorgung bemerkbar gemacht haben. Schließlich sei mit Nachdruck der Auf- und Ausbau durch politische Entscheidungen hervorzuheben und hierbei auf den Parteienwettbewerb um die Wählerstimmen bei den Wahlen zu verweisen, wobei grundsätzlich die Erlangung von Herrschaftslegitimität mittels Sozialpolitik eine wesentliche Rolle spielte.
Auch einflussreiche Wirtschaftsverbände stellten eine Machtressource des Sozialstaates dar (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände). Ebenso fungierte als Antriebskraft das Politikerbe, d.h. es wurden Entscheidungen auf der Basis früherer Festlegungen getroffen, die sich prägend auswirkten. Damit ist der Komplex der Pfadabhängigkeit impliziert, denn vielfach dominierten herkömmliche Lösungen, wenngleich diese als nicht mehr zeitgemäß empfunden wurden. Über die weiteren Tendenzen und Entwicklungsrichtungen des deutschen Sozialstaats vor allem nach 2000 wird unten im Kapitel V ein ausführliches Fazit gezogen.
4 Hans Günter Hockerts, Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 139f.; zum Folgenden auch Gabriele Metzler, Der deutsche Sozialstaat. Vom bismarckschen Erfolgsmodell zum Pflegefall, Stuttgart/München 2003, S. 169-190; Lutz Leisering, Der deutsche Sozialstaat, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 182ff.
5 Vgl. zur Entwicklung der Sozialpolitik in der DDR Hans Günter Hockerts, Grundlinien und soziale Folgen der Sozialpolitik in der DDR, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 224-248. Da das westdeutsche System der sozialen Sicherung bzw. der Sozialpolitik nahezu identisch auch im wiedervereinigten Deutschland bestehen blieb, wird auf die Entwicklungsgeschichte der Sozialpolitik in der DDR verzichtet.
6 Vgl. dazu Hans Günter Hockerts, Integration der Gesellschaft: Gründungskrise und Sozialpolitik in der frühen Bundesrepublik, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 23f. und S. 23-42 (zum Folgenden); Manfred G. Schmidt, Der Deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 38f.; vgl. zu den Phasen des bundesdeutschen Sozialstaats auch Lutz Leisering, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialmodells, in: Hans-Peter Schwarz (Koord.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, München 2008, S. 427ff.
7 Andreas Meusch, Sozialpolitik, in: Werner Weidenfeld/Rudolf Korte (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit, Bonn 1999, S. 695 und ebenda, S. 698f. (zum Folgenden).
8 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 258 und S. 259 (das folgende Zitat); zum Folgenden auch ders., Gesellschaftsgeschichte, S. 257-267.
9 Metzler, Sozialstaat, S. 175.
10 Drittes Gesetz zur Neuordnung des Geldwesens, Teil II, 4. Abschnitt, § 23 (Gesetz No. 63 vom 27. Juni 1948) zit. nach Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945, Bonn 2005, S. 194 und ebenda, S. 191 (das folgende Zitat).
11 Vgl. zur Rezeption des Beveridge-Plans in der deutschen Nachkriegszeit Hans Günter Hockerts, Das Gewicht der Tradition: Die deutsche Nachkriegssozialpolitik und der Beveridge-Plan, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 43-70.
12 Meusch, Sozialpolitik, S. 696.
13 Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte, S. 195; ebenda, S. 195ff. (zum Folgenden); Schmidt, Sozialstaat, S. 39f.
14 Vgl. Hans Günter Hockerts, Wie die Rente steigen lernte: Die Rentenreform 1957, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 71-85.
15 Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 262.
16 Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, München 19912, S. 159.
17 Hockerts, Einleitung, S. 12 und ders., Rente, S. 71 (der folgende Begriff).
18 Thomas Ebert, Die Zukunft des Generationenvertrags, Bonn 2018, S. 46.
19 Vgl. Hans Günter Hockerts, Im Zenit der staatlichen Wohlfahrtsproduktion: Die Reformära 1966-1974, in: ders., Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 181-201.