Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt страница 11

Автор:
Серия:
Издательство:
Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

Скачать книгу

uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit. Daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, indem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sie schlachten zu lassen, – das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.38

      Es gibt also ein kontingentes Moment in der Gesamtentwicklung, und deshalb ist Kant in vielen Punkten ein Materialist. Diese Materie ist für ihn offen, nicht geschlossen, die Katastrophe ist möglich. Die Naturrevolution im Sinne einer Gesamtmutation, die anderen Wesen den Weg öffnet, ist nicht ausgeschlossen. Aber wenn man jetzt wie Jacques Monod, der französische Nobelpreisträger, der ein sehr witziges Buch über »Zufall und Notwendigkeit« geschrieben hat,39 den Menschen als ein kleines Plasmateilchen im Weltall lokalisiert, das eigentlich gar nicht viel ausrichten kann, dann ist das jedenfalls für Kant die Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung, keine Kleinigkeit, sondern eine Verkehrung des Ganzen. Zu schlussfolgern, man könne den Mensch als Kleinigkeit behandeln, ist demnach ein Versuch, aus der Möglichkeit einer Naturrevolution Herrschaft abzuleiten, und gegen diesen Versuch, Herrschaft zu legitimieren, wendet sich Kant entsprechend deutlich.

      Ich möchte hier kurz in wenigen Sätzen einschieben, warum Kant überhaupt auf diese Naturvoraussetzungen bei geschichtlichen Prozessen reflektiert. Dafür will ich den Begriff ›transzendental‹ einführen, den ich bisher nicht erläutert habe, der aber charakteristisch ist für die Kantische Philosophie. Transzendental bedeutet die Feststellung all jener Bedingungen des Denkens und Handelns, ohne die Denken und Handeln nicht möglich sind. Das heißt, transzendental bedeutet immer Reflexion auf etwas und seine Bedingungen. Unter welchen Bedingungen ist also Natur möglich? Kant sagt schlicht, unter der Bedingung, dass es ein apriorisches Gesetz in der Vernunft gibt, das Naturzusammenhang stiftet: Kausalität. Nur deshalb ist Natur möglich. Unter welchen Bedingungen sind ästhetische Gebilde möglich? Unter der Bedingung, dass ein Genie Gesetze für interesseloses Wohlgefallen erlässt. In Bezug auf eine weltbürgerliche oder republikanische Verfassung fragt Kant nun nicht, ob diese notwendig sei. Diese Frage ist für ihn ausgestanden. Sie ist notwendig aufgrund von Vernunft. Aber wie ist sie möglich? Unter welchen Bedingungen lässt sich eine weltbürgerliche Verfassung durchsetzen? Unter welchen Bedingungen kann sie Realität werden? Deshalb tastet er alles in einem gewissermaßen empirischen Verfahren ab: Er fragt nicht, wie sollte der Mensch sein, sondern wie ist er erfahrungsgemäß. Um nun festzustellen, dass die Menschen bösartig sind, braucht man keine große Analyse, ja man braucht dafür noch nicht einmal Erfahrung, sondern das ist etwas Apriorisches.

      Diese Reflexion auf die Bedingungen für die Möglichkeit ist durchgängig bei Kant festzustellen, auch in den geschichtsphilosophischen Schriften. Deshalb fragt er sich: Welche Naturbedingungen machen die friedliche Verfassung der Menschheit subjektiv-transzendental notwendig und objektiv-empirisch möglich, selbst wenn sie noch nicht realisiert ist. Eine solche Möglichkeit ist der Krieg, die Tatsache, dass sich Völker und Menschen bekämpfen und mit der Nase darauf gestoßen werden, dass es so nicht weitergehen könne. Wenn sie anfangen, Leute zur Schlachtbank zu führen, wenn Fürsten ihre Untertanen verkaufen, um bestimmte Ziele durchzusetzen, dann widerspricht das dem Vernunftgesetz des Schöpfungszwecks: Es kann nicht Sinn der Schöpfung sein, dass Menschen sich töten, und zwar deshalb nicht, weil der Mensch Anlagen der Natur hat, die ihn darüber hinausführen. Daher rührt die Reflexion auf die Naturanlage, sich moralisch zu verhalten, das heißt nach allgemeinen Prinzipien und Maximen. Eine solche Anlage kann die Natur nicht sinnlos produziert haben – davon geht Kant, gehen wir als vernunftbegabte Menschen aus, auch wenn es sich nicht beweisen lässt.

      Lassen wir es zunächst einmal dabei bewenden, denn ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang sehr wichtig. Kant stellt sich die Frage: Warum müssen die Menschen eigentlich friedlich miteinander leben? Warum werden sie mit der Nase darauf gestoßen, dass eine republikanische, also friedliche Verfassung, denn mehr besagt dieser Begriff zunächst nicht, möglich ist? Kant begründet diese Tatsache merkwürdigerweise aus der Kugelform der Erde. Er sagt: Die Menschen können es nicht verhindern, prinzipiell aufeinanderzustoßen, weil sie sich nicht ausweichen können. Menschen und Völker sind prinzipiell nicht imstande, sich irgendwo friedlich niederzulassen, ohne auf andere zu stoßen. Damit begründet die Kugelform der Erde tatsächlich etwas wie die Notwendigkeit des Rechts. Für Kant hat Recht mit Moral nichts zu tun. Diese Trennung von Recht und Moral ist bei Kant zentral und exakt formuliert. Eine rechtliche Verfassung der Menschen muss demnach auch in einer Gesellschaft von Teufeln möglich sein, wenn sie nur Vernunft haben. Dann spielt ihre Moralität keine Rolle. Sie können absolut böse und bösartig handeln, sie müssen nur Vernunft haben.40 Das ist keine Deduktion, sondern eine transzendentale Ableitung, eine Feststellung der Bedingung der Möglichkeit. Kant leitet aus der Kugelform der Erde das allgemeine Hospitalitätsrecht ab, das heißt, das Gastrecht. Mit einem Wort: Jeder Mensch hat ein Naturrecht auf einen Platz auf dieser Erde, und niemand hat von Natur aus das Recht, ihn davon zu vertreiben. Nun bedeutet das nicht, dass er Recht hat auf den Platz, den er bewohnt, sondern er hat ein Anrecht auf einen Platz überhaupt. Das heißt, wer sich in friedlicher Absicht irgendwo auf dieser Erde niederlässt, kann mit naturrechtlicher Begründung nicht von dort vertrieben werden. Die Erde, das ist die erste Rechtskategorie, ist Gemeinbesitz der Menschen, und aller Privatbesitz ist Besonderung und muss aus dem Allgemeinbesitz begründet werden. Die Erde ist der erste Gemeinbesitz aller Menschen.

      Ich darf Ihnen eine Stelle aus dem Fragment »Zum ewigen Frieden« vortragen.41 Im dritten Definitivartikel steht dort: »Das Weltbürgerrecht soll auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein.« Hospitalität bedeutet nicht einfach Gastrecht, sondern Gastrecht in dem Sinne, dass niemand aus dem Hause der Erde oder der Natur vertrieben werden darf. Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, »und da bedeutet Hospitalität (Wirtbarkeit) das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann«. Er hat ein Recht, ihn von dem Boden zu vertreiben, wenn es »ohne seinen Untergang«, ohne seine physische Schädigung geschehen kann. Darin, das folgt in der Rechtstheorie, ist die Auslieferung an andere Länder miteinbezogen:

      Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann; so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann (wozu ein besonderer wohltätiger Vertrag erfordert werden würde, ihn auf eine gewisse Zeit zum Hausgenossen zu machen), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten, vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde.42

      Jeder Mensch hat ein Naturrecht, sein Gesellschaftsbedürfnis, seine Gesellschaftlichkeit, das heißt eigene Kräfte dem anderen zur Kommunikation und zur Beteiligung an der Entwicklung anzubieten. Darauf hat er ein Recht, und er darf deshalb nicht vertrieben werden, weil es einen gemeinschaftlichen ursprünglichen Rechtsbesitz der Erdoberfläche gibt, »auf der, als Kugelfläche, [die Menschen] sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch neben einander dulden [zu] müssen, ursprünglich aber niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht hat, als der andere.«43

      Hier kommt Kant auf die Frage zu sprechen, und darin steckt ein Stück Imperialismus, wie sich Kommunikation mit abgelegenen Teilen der Erde ergebe. Ihm nach, kann man andere Völker durchaus überfallen, wenn diese sich der Gesellschaftlichkeit verschließen, nicht mit anderen kommunizieren wollen. Das sei letztlich in ihrem Interesse, weil sie sich nur so zur weltbürgerlichen Gesellschaft öffnen und damit ihre von der Natur angelegten Vernunftfähigkeiten entfalten würden. Kant geht sogar so weit, dass derjenige, der sich weigere diese Naturanlagen zu entfalten, in gewisser Weise dazu gezwungen werden könne.

      Die Kugeloberfläche der Erde zwingt die Menschen folglich dazu, sich zu tolerieren und miteinander auszukommen. Das ist eine transzendentale Bedingung dafür, dass Recht nicht nur notwendig, sondern auch möglich ist. Man kann es auch so

Скачать книгу