Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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daß auch nicht der mindeste Grund zu diesem Vorgeben da war, vornehmlich nicht in einem Lande, was vom Schauplatz der Revolution mehr als hundert Meilen entfernt war.22

      Wir sehen hier eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution: Hier entsteht eine Theorie, die, glaube ich, als revolutionäre Theorie des Bürgertums zu bezeichnen ist und die alle Widersprüche unvermittelt stehen lässt, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft zeigen.

      Ich habe hier zunächst das Verhältnis zwischen Aktionszeit und Reflexionszeit problematisiert und mit einem Sprung in die Kantische Theorie behandelt. Bei diesem Problem des Revolutionsbegriffs und des Revolutionsverständnisses sowie des Kantischen Geschichtsbegriffs möchte ich noch einen Augenblick verweilen, bevor ich, wie angekündigt, den Bezugsrahmen diskutiere, in dem sich meine Kant-, Hegel- und Marxaneignung vollzieht. Diesen Rahmen liefert im Wesentlichen die Frage, inwieweit sich die Diskussion über den historisch substanziellen Gehalt der Marx’schen Theorie selbst verändern muss, damit eine Aneignung im heutigen Marxismus möglich wird.23 Es geht mir grundsätzlich darum, zu zeigen, dass jede Epoche und jede Klasse jene epochale Theorie sozialer Emanzipation, wie sie bei Marx vorliegt, umschreiben, das heißt neu konstituieren muss, wenn sie historisch wirksam werden soll. Die Marx’sche Gesellschaftstheorie muss also reformuliert werden, wenn sie Bezugsrahmen für die Aneignung der bürgerlichen Philosophie sein soll. Nur so bleibt der Bezugsrahmen der Marx’schen Theorie, so absurd es erscheinen mag, erhalten und werden nicht bestimmte Komplexe, Gebiete, Gegenstandsbereiche naturwüchsig ausgegliedert oder vernachlässigt. Ich habe bereits einige Beispiele genannt, etwa die Industriesoziologie, die angedeutet ist im »Kapital«, aber eigentlich liegen geblieben ist und deshalb von den bürgerlichen Wissenschaften okkupiert wurde. Das gilt auch für psychologische Ansätze, die es bei Marx in den Frühschriften gibt. Mit anderen Worten: Selbst wenn wir aktuell zu Kant übergehen, wird am Ende dieses Vorlesungszyklus wiederum der Versuch stehen, die Marx’sche Theorie unter neuen Voraussetzungen im Detail zu diskutieren. Was nun unmittelbar folgt, ist nichts weiter als der Versuch, Prinzipien dieser Neuaneignung zu formulieren.24

      Doch worum geht es mir in diesem Zusammenhang bei Kant? Es geht um die Frage, ob nicht gerade in der Geschichtslosigkeit seines Geschichtsbegriffs und seines Revolutionsbegriffs, die geschichtliche Substanz des bürgerlichen Denkens zum Ausdruck kommt. Es geht um dieses prekäre Problem der Beziehung zwischen geschichtlicher Betrachtungsweise, geschichtlichen Ereignissen und geschichtlicher Substanz. Nun zeigt sich bei Kant im »Streit der Fakultäten«, zumal im für uns wesentlichen Streit zwischen der philosophischen und der juristischen Fakultät, in jeder Hinsicht die prägnanteste widersprüchliche Beziehung, die es im bürgerlichen Denken zu diesem Problem gibt.

      Es geht Kant in diesem Text, wie wir gesehen haben, zentral um die Frage: Gibt es einen Fortschritt der Menschen – nicht wie bei Hegel im Bewusstsein der Freiheit, sondern eher im Bewusstsein der Weiterentwicklung seiner moralischen Qualität? Um diese Frage zu beantworten, begibt Kant sich auf die Suche nach einem Ereignis, das empirisch feststellbar, also erfahrbar ist und dessen genaue Analyse nicht nur auf die Existenz einer moralischen Anlage, sondern sogar mit Vorbehalten auf ihre mögliche Weiterentwicklung schließen lässt. Kant kommt – nicht explizit, aber doch klar bezogen auf die Französische Revolution – zu dem Schluss: Wir können nicht empirisch feststellen, ob sich die moralische Anlage weiterentwickelt, aber wir können immerhin ein »Geschichtszeichen«, einen Hinweis, einen Wink der Geschichte auf diese moralische Anlage suchen.

      Warum sagt Kant nicht einfach: Das ist die Französische Revolution, und in ihr zeigt sich eine Rechtsbehauptung des Volkes, wie er es an anderer Stelle nennt? Warum spricht er von einem »Geschichtszeichen«? Damit macht er klar, dass dieses Zeichen nicht die Ursache für, sondern nur ein Hinweis auf die Weiterentwicklung ist. Er erklärt das weiter:

      Diese Begebenheit besteht nicht etwa in wichtigen, von Menschen verrichteten Taten oder Untaten, wodurch, was groß war, unter Menschen klein oder, was klein war, groß gemacht wird, und wie gleich als durch Zauberei alte, glänzende Staatsgebäude verschwinden, und andere an deren Statt, wie aus den Tiefen der Erde, hervorkommen. Nein: nichts von allem dem. Es ist bloß die Denkungsart der Zuschauer, welche sich bei diesem Spiele großer Umwandlungen öffentlich verrät und eine so allgemeine und doch uneigennützige Teilnehmung der Spielenden auf einer Seite, gegen die auf der andern, selbst mit Gefahr, diese Parteilichkeit könne ihnen sehr nachtheilig werden, dennoch laut werden läßt, so aber (der Allgemeinheit wegen) einen Charakter des Menschengeschlechts im ganzen, und zugleich (der Uneigennützigkeit wegen) einen moralischen Charakter desselben, wenigstens in der Anlage, beweiset, der das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solcher ist, so weit das Vermögen desselben für jetzt zureicht.25

      Bei Kant deutet, wie wir bereits gesehen haben, auf die moralische Anlage nicht die Denkungsart der Revolutionäre hin, weil bei ihnen eigennützige Interessen im Spiel sein können, sondern nur der Enthusiasmus derjenigen, die dem Ereignis ohne unmittelbare eigene Beteiligung und ohne eigene Interessen lediglich beiwohnen. Es ist also nicht wie in der Ästhetik von Kant ein interesseloses Wohlgefallen an bestimmten Produkten, sondern ein interesseloses Verhalten gegenüber der Revolution, das auf eine moralische Grundlage seitens der Betrachter schließen lässt. Mit anderen Worten, Kant möchte eine Veränderung der revolutionären Denkungsart, eine Veränderung der Denkungsart ohne Revolution. Am liebsten wäre ihm ein Geschichtszeichen, das nicht mit Gräueltaten und Elend verbunden ist. Er möchte gewissermaßen die Revolutionierung der Denkungsart – nicht des Denkens, sondern der Art, wie sich reales Verhalten gegenüber anderen Menschen angeeignet wird – ohne revolutionäre Umwälzung.

      Damit werden zunächst Prozesse, die äußerlich in der Geschichte ablaufen, in geschichtslose Formen transponiert. In dieser revolutionären Denkungsart schlägt sich das nieder, was einen Anstoß braucht, um sich zu entwickeln. Es geht um eine bestimmte verinnerlichte Form der Anschauung und des Denkens, des moralischen Verhaltens und so weiter, eben um eine Denkungsart. Das Zweite ist, dass diese Denkungsart von Bildungsprozessen gekennzeichnet ist und nicht durch äußerliches Handeln zustande kommt, denn keine einzige Handlung, weder eine zufällige noch eine Interessen geleitete, beweist ein moralisches Verhalten. Nur die Gesinnung oder die Maxime des Handelns macht Moralität und damit auch Fortschritt in der Moralität aus. Das bedeutet, dass sich hier der Begriff des revolutionären Ereignisses in die Subjekte schlägt, zu einer Angelegenheit von Subjekten wird, aber nicht von Individuen, sondern von Kollektiven: Es sind Völkerschaften und Staaten verteilt auf der Erde, die einen solchen Prozess durchlaufen.

      Diese Denkungsart aktualisiert das Gesetz der Menschheit in der Person, denn sie bezieht sich auf das, was Kant mit Menschheit und mit dem Allgemeinen bezeichnet. Was sich hier, so Kant, herausbildet angesichts der Französischen Revolution ist der Citoyen, der allgemeine Bürger, der sich im Grunde von materiellen Interessen emanzipiert hat und nur das Interesse der Menschheit vertritt. Worin zeigt sich das am deutlichsten? Er nimmt Gefahren auf sich für Dinge, von denen er nach Kant nicht profitiert. Das heißt, er spricht diese revolutionäre Denkungsart in einzelnen Dingen aus und riskiert damit Amt und Würden, riskiert damit, dass die Menschen ihn als einen Revolutionär ansehen. Warum macht er das? Kant ist überzeugt, dass ein Mensch nur etwas riskiert entweder aus materiellen Interessen, also Interessen des Bourgeois, oder wenn er die Menschheit vertritt. Dieser Dualismus zwischen Interessen und Moralität ist damit ein für alle Mal zementiert: Ein Mensch, der Interessen vertritt, vertritt nicht die Würde. Alles was einen Preis hat, hat keine Würde, und die Würde definiert sich dadurch, dass sie nicht austauschbar ist. Die absolute Unaustauschbarkeit der Würde ist das, was sie mit Interessen unvereinbar macht. Die absolute Unaustauschbarkeit der revolutionären Denkungsart ist das, was sie vom Bourgeois-Interesse absetzt. Diese Unaustauschbarkeit hat immer zur Grundlage die direkte Beziehung zur Menschheit, zu dem, was man mit dem Begriff der Menschheit und dem Begriff von Emanzipation verbindet.

      Der Begriff der Revolution und der Geschichte als einem geschichtslosen Prozess bezieht sich bei Kant auf eine Form von Affekten, die keine mehr sind. Wenn man so will, transponiert er alle realen materiellen Bewegungsmomente

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