Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Dies also und die Teilnehmung am Guten mit Affekt, der Enthusiasm, ob er zwar, weil aller Affekt als ein solcher Tadel verdient, nicht ganz zu billigen ist, gibt doch vermittelst dieser Geschichte zu der, für die Anthropologie wichtigen Bemerkung Anlaß: daß wahrer Enthusiasm nur immer aufs Idealische und zwar rein Moralische geht, dergleichen der Rechtsbegriff ist, und nicht auf den Eigennutz gepfropft werden kann.26
Wir sehen auch hier eine Transposition von Empirischem – Gefühle, Affekte sind etwas Erfahrbares – in eine Dimension, die etwas Allgemeines ist. Kant versucht eigentlich immer, Geschichtliches und Materielles in Allgemeines zu transponieren. Das ergibt natürlich eine spezifische Widersprüchlichkeit: Wie er sich eine revolutionäre Denkungsart ohne Revolution vorstellt, imaginiert er Affekte ohne Gefühle. Was hier Affekt ist, ist das Allgemeinste von Gefühlen, ist eigentlich eine rein allgemeine Beziehung zum Idealischen, was immer das heißen mag, jedenfalls eine Beziehung, die frei ist von der Zufälligkeit der Gefühle, von Glück, Wohlwollen, Wohlstand und so weiter. Die Teilnahme am Guten, das enthusiastische Zuschauen bei der Revolution als dem Guten, ist eigentlich ohne Gefühle nicht zu denken, aber anderenfalls würde sich darin wieder etwas Zufälliges ausdrücken, etwas Empirisches, Vergängliches, Nicht-Allgemeines. Deshalb ist diese Transposition von etwas Empirischem in Affekte ein wichtiger Mechanismus, um die Revolution ins Subjekt zu transponieren. Kant führt das weiter aus:
Durch Geldbelohnungen konnten die Gegner der Revolutionierenden zu dem Eifer und der Seelengröße nicht gespannt werden [die konterrevolutionären Heere, die Paris eingrenzten, konnten durch Geld und Belohnung und die Antreiberei von Offizieren nicht zur Seelengröße gespannt werden, Anm. Negt], den der bloße Rechtsbegriff in ihnen hervorbrachte, und selbst der Ehrbegriff des alten kriegerischen Adels [ein Analogon des Enthusiasm, Anm. d. Ver.] verschwand vor den Waffen derer, welche das Recht des Volks, wozu sie gehörten, ins Auge gefaßt hatten, und sich als Beschützer desselben dachten; mit welcher Exaltation das äußere, zuschauende Publikum dann, ohne die mindeste Absicht der Mitwirkung, sympathisierte.27
Hier argumentiert Kant wirklich filigran und in mehrfacher Hinsicht äußerst komplex. Immer wieder betont er, dass er in den eigentlich Mitwirkenden nicht das Subjekt erblickt. Allerdings lässt sich mit der Aktivität der Sympathisanten nicht erklären, warum sich die Revolution gegenüber den Konterrevolutionären halten konnte, was nur durch die Aktivität von Revolutionären selbst gelang, die doch dem alten Ehrbegriff nicht viel abgewinnen konnten. Kant erläutert: Was einst der kriegerische Adel mit seinem Ehrbegriff als einem Allgemeinen, Verpflichtenden versucht hat, habe hier die reine Form bewirkt, nämlich die reine Rechtsbehauptung, das Recht als ein Allgemeines, ein Recht der Menschheit und der Menschlichkeit. Die Rechtsbehauptung ist es, die den Enthusiasmus erzeugt.
Was aber bedeutet Rechtsbehauptung hier? Es bedeutet, dass sich die Menschen, unabhängig von allen partikularen Interessen, direkt auf das Allgemeine beziehen, auf das, was alle verbindet, was für alle verbindlich ist, was formal ist. Die Form macht gewissermaßen die Kraft aus: Bloße Rechtsbehauptung kann also einen Enthusiasmus bewirken, der – völlig unangesehen der eigenen Interessen – dem Volk bestimmt, sich selbst zu befreien.
Diese Revolution abzüglich der empirischen Revolution drückt sich noch in einem weiteren prekären Punkt bei Kant aus. Er spricht auf der einen Seite von Revolution, von der Revolution eines geistreichen Volkes, und an einer anderen Stelle in der »Kritik der reinen Vernunft« von einer revolutionären Denkungsart. Er gebraucht dabei den Begriff der Revolution sehr präzise für die Umstülpung der gesamten Verhältnisse, und gleichwohl sagt er, diese Revolution sei nichts weiter als die »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung«.
Diese Begebenheit ist das Phänomen nicht einer Revolution, sondern (wie es Hr. Erhard ausdrückt) der Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, die zwar nur unter wilden Kämpfen noch nicht selbst errungen wird – indem der Krieg von innen und außen alle bisher bestandene statutarische zerstört [statutarisch bedeutet das traditionelle Naturrecht, im Unterschied zum rationalen, modernen Naturrecht, Anm. Negt], die aber doch dahin führt, zu einer Verfassung hinzustreben, welche nicht kriegssüchtig sein kann, nämlich der republikanischen; die es entweder selbst der Staatsform nach sein mag, oder auch nur nach der Regierungsart.28
Diese naturrechtliche Verfassung zeichnet sich gegenüber allen bisherigen dadurch aus, dass sie friedlich ist, ihrem Sinngehalt nach auf das Allgemeine verpflichtet, also nicht auf das Partikulare, antagonistisch Kämpfende. Diese per se friedliche Verfassung, wie Kant sie erstrebt, verbietet den Angriffskrieg. Ein wesentliches Element der Kantischen Sichtweise auf die Französische Revolution ist die Tatsache, dass sie Angriffskriege verbiete, diese jedenfalls nicht nötig habe, während für alle feudalen Systeme der Angriffskrieg ein wesentliches Merkmal oder jedenfalls nicht grundsätzlich abgeschafft sei. Darauf, dass in der republikanischen Verfassung der Angriffskrieg, wenn auch nicht empirisch, so doch grundsätzlich aufgrund allgemeiner Regeln abgeschafft ist, kommt es ihm an. Selbstverständlich gibt es Kriege, aber sie sollten nicht sein und sind unter republikanischer Verfassung nicht legitimierbar:
Nun behaupte ich dem Menschengeschlechte, nach den Aspekten und Vorzeichen, unserer Tage die Erreichung dieses Zwecks und hiemit zugleich das von da an nicht mehr gänzlich rückgängig werdende Fortschreiten desselben zum Besseren, auch ohne Sehergeist, vorhersagen zu können. Denn ein solches Phänomen in der Menschengeschichte [hier kommt wieder das ungeheure Pathos Kants zum Ausdruck, was die Französische Revolution betrifft, Anm. Negt] vergißt sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Laufe der Dinge herausgeklügelt hätte, und welches allein Natur und Freiheit, nach inneren Rechtsprinzipien im Menschengeschlechte vereinigt, aber, was die Zeit betrifft, nur als unbestimmt und Begebenheit aus Zufall verheißen konnte.29
Ich möchte noch einmal die widersprüchlichen Gesichtspunkte kurz zusammenfassen, die sich in dieser Konzeption von Revolution ausdrücken. Kant ist aus systematischen Gründen nicht imstande, einen geschichtlichen Beweis aus der Erfahrung dafür zu gewinnen, dass das Menschengeschlecht im Fortschritt begriffen ist, denn alles empirische Wissen bedarf ja der Vernunftprinzipien und der allgemeinen Grundsätze des transzendentalen Verstandes, um Allgemeines werden zu können. Gleichwohl ist für Kant ein Abderitismus unmöglich, dieses Schwanken der moralischen Grundlage auf ein und derselben Ebene, wäre die moralische Grundlage dann doch eine rein anthropologische Angelegenheit, die sich dem Potenzial nach nicht verändert. Seine »Kritik der praktischen Vernunft« und die »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« waren noch rein auf dieser Grundlage konstruiert, dass die moralische Anlage heute genauso wie vor tausend und zehntausend Jahren gleichgeblieben sei, dass sich gar keine Veränderung vollziehe. Diese Konstanz der moralischen Anlage kann Kant jedoch in einer Zeit, da Umbrüche größten Ausmaßes erfolgen, nicht mehr aufrechterhalten. Inzwischen beginnt eine Erosion des allgemeinen preußischen Landrechts, auch die neuen Rechtskodifikationen beginnen, erste Kritik an den Offenbarungsreligionen wird laut und so weiter. Es werden dogmatische Systeme gestürzt, und nicht nur das: Es werden ganze Staaten durch Revolutionsheere umgekrempelt, die auch nach außen dringen. In diesem Umwälzungsprozess muss Kant zwar die Vorstellung der Unveränderlichkeit aufgeben, allerdings ist er nur imstande, einen vermittelten Hinweis darauf zu geben, wenn man so will, theologisch zu deuten, was sich vollzieht. Es ist ein Fitzel empirischer Realität, ein Teilchen, ein Fanal, ein Hinweis, an dem er zeigen kann, dass doch etwas wie eine Besserung der Menschheit im Moralischen stattfindet. Aber es ist für ihn in dieser Periode nur möglich, das nachzuvollziehen, was sich auch geschichtlich ereignet hat. Die empirische Revolution, die in Frankreich ein wirkliches Ereignis war, wird in Deutschland zu einem virtuellen Ereignis, zu einem Bildungserlebnis. Was später Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« sagt, der Geist aus der Unruhe der französischen Gesellschaft gehe im Bereich der Bildung in die deutsche über,30 das ist bei Kant genau und viel widersprüchlicher ohne irgendwelche Vermittlungsebenen ausgedrückt.
Diese Konstruktion von empirischen und nicht-empirischen, subjektiven