Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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[…] daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist, den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republikanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann, mithin in die Bedingung einzutreten, wodurch der Krieg (der Quell aller Übel und Verderbnis der Sitten) abgehalten, und so dem Menschengeschlechte, bei aller seiner Gebrechlichkeit der Fortschritt zum Besseren negativ gesichert wird, im Fortschreiten wenigstens nicht gestört zu werden.31
Es folgt jener bereits zitierte Passus, in dem Kant erklärt, dass das »Murren der Untertanen« vor allem dann laut werde, wenn die Regierung »Auswärtige […] am Republikanisieren« hindere, worin sich nur des Volkes Liebe zur eigenen Verfassung artikuliere.32 Und je mehr sich andere Völker »republikanisieren«, desto sicherer könne sich das Volk fühlen. Damit sagt Kant im Grunde nichts anderes, als dass alle Völker republikanisch werden sollen außer Preußen. Dann nämlich könne man sich, weil es keinen Angriffskrieg mehr gebe, auch in Preußen sicher fühlen. Diese Ambivalenz des Volkes – ich werde da noch im Einzelnen darauf zusprechen kommen, was darunter zu verstehen ist – beinhaltet ganz Verschiedenes, aber nicht, was bei Hegel anklingt, den Pöbel. Das Volk ist hier ein Souverän der Idee oder den Grundsätzen, nicht aber den Handlungen nach. Um sich selbst zu salvieren, fügt Kant an, »verleumderische Sykophanten« hätten versucht, das Murren »für Neuerungssucht, Jakobinerei und Rottierung […] auszugeben«, wofür es aber, zumal »hundert Meilen« vom »Schauplatz der Revolution« entfernt, keinerlei Grund gebe.
Kant versucht, alle empirischen Bestandteile herauszulösen aus der Veränderung der Denkungsart, deren Notwendigkeit sich bestätigt hat. Er negiert im Grunde, dass die Folgen, selbst jene einer Transposition der objektiven Revolution in die Denkungsart, durch Verbreitung in einem anderen Volk gefährlich werden könnten. Selbst diesen empirischen Rest, dass andere Folgerungen aus dieser Philosophie ziehen, muss Kant entfernen, damit so etwas wie ein Allgemeines gelten kann. Nun bedeutet das keineswegs bei Kant, im Übrigen auch nicht bei Hegel, eine schlichte äußerliche Anpassung an die Verhältnisse. Worauf ich hinaus will bei dieser Kantinterpretation ist vielmehr, dass die Produktion der Philosophie in Preußen darauf hinauslief, die empirische Seite hinauslösen zu müssen, was sich als ein Zwiespalt durch die ganze Kantische Philosophie zieht. Ob man nun den empirischen und intelligiblen Charakter nimmt, ob man die Rechtsbehauptung und die Affekte nimmt – die dichotome Struktur dieser Philosophie produziert solche Mechanismen, weil mit der Bestätigung der Revolution gleichzeitig eine chronische und fundamentale Revolutionsangst mitgesetzt ist als wichtiger Bestandteil des bürgerlichen Denkens. Wahrscheinlich entspringt dieser Revolutionsangst überhaupt die philosophische Produktivität in diesen Systemen.
Natur und Revolution – Kants Geschichtsphilosophie
Vorlesung vom 1. November 1974
Wer sich mit Kants Geschichtsbegriff und seinem Begriff der bürgerlichen Revolution befasst, muss sich gleichzeitig auch mit seinem Begriff von Natur beschäftigen. Das geschichtliche Interpretieren von geschichtlichen Ereignissen der Gegenwart ist nicht nur bei Kant, sondern insgesamt in der bürgerlichen Gesellschaft der revolutionären und unmittelbar nachrevolutionären Periode immer gebunden an eine bestimmte, sehr differenzierte Vorstellung von Natur. Wir wollen hier jedoch nicht jenen Naturbegriff behandeln, wie er sich in der »Kritik der reinen Vernunft« findet. Dort ist Natur sehr abstrakt als das Dasein der Dinge unter Gesetzen definiert. Ebenso wenig geht es um jene Vorstellung von Natur, die mit dem Geniebegriff in der »Kritik der Urteilskraft« verbunden ist. Es geht vielmehr um den Naturbegriff in den geschichtsphilosophischen Arbeiten von Kant, und dieser lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten aufgliedern.
Er bezeichnet zum einen eine anthropologische Dimension, zum anderen das, was später bei Marx »naturwüchsig« heißt.33 Darüber hinaus bezeichnet er schlicht geografische Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, also Natur in einem unmittelbaren Sinn, und schließlich das, was im Begriff ›Naturrecht‹ enthalten ist, also eine Vorstellung der Natur, die bei der gesamten Naturrechtslehre des Bürgertums eher das meint, was gerade nicht Natur ist. Eigentlich ist dieses Naturrecht ein Vernunftrecht, und es wird noch zu fragen sein, warum es gleichwohl als Naturrecht bezeichnet wird.
Für Kant hat die Französische Revolution einen elementaren Charakter, man kann fast sagen, sie ist für ihn ein Naturereignis und nicht etwas, das sich Individuen ausgedacht haben. Damit ist sie von den Vorstellungen der Konterrevolutionäre weit entfernt, die mutmaßen, es zögen bei Revolutionen nicht anders als bei einem Putsch schlicht einige Leute irgendwie die Fäden. Sie sind überzeugt, dass Revolutionen grundsätzlich dieselbe Struktur wie konterrevolutionäre Gewalt aufweisen und zu unterdrücken seien mit Manipulationen, Bestechungen, brutaler Gewalt, Bespitzelungen etc. Entsprechend, glauben sie, verlaufe auch der revolutionäre Prozess auf derselben Ebene manipulierter Gewalt. Eine solche Form der Revolution kann es bei Kant jedoch nicht geben: Revolution ist bei ihm ein elementares geschichtliches Ereignis, einbezogen in eine Vielzahl von materiellen und geistigen Konstellationen und nicht auf die Absicht Einzelner oder bestimmter Gruppen zurückzuführen. Revolution ist bei Kant ein Entwicklungsprozess, weshalb er sagt, die Revolution des geistreichen französischen Volkes sei die Evolution einer naturrechtlichen Verfassung, eine Entwicklung, ein Prozess, der bestimmte geschichtliche Knotenpunkte habe, in denen Konstellationen zusammentreffen. Planungsabsicht komme bei diesem Prozess nur insofern zum Ausdruck, als er eventuell einem Plan der Natur folgt.
Diese Vorstellung von Revolution ist nicht ganz neu, worauf auch Karl Griewank hinweist.34 Auch er hat den neuzeitlichen Revolutionsbegriff als einen naturwüchsig durchsetzten interpretiert, bei dem nicht mehr die Vorstellung eines irgendwie planvollen Unternehmens vorherrscht, sondern sich eine Gesamtkonstellation der Kräfte ergibt. Der einzige Revolutionsbegriff im strengen Sinne ist demnach der neuzeitliche. Denn die Verwendung des Begriffs ›Revolution‹ tritt keineswegs erst mit dem rationalen Naturrecht auf, wovon zum Beispiel Kopernikus Hauptschrift »De revolutionibus orbium coelestium« (1543) zeugt. Bei ihm geht es um einen ganz anderen Zusammenhang, um die geordnete Bewegung der Gestirne und damit um etwas, das sich in einem berechenbaren und prognostizierbaren Zusammenhang bewegt. Gleichwohl ist in diesem Revolutionsbegriff ein Moment von Objektivität enthalten. Es geht nicht um eine willkürliche Anordnung gesellschaftlicher Objekte, sondern um einen Prozess, für dessen Zustandekommen alle Bestandteile wesentlich sind.
Was Kopernikus innerhalb der Astronomie bezeichnet, findet vielfache Übertragungen und Transpositionen in den gesellschaftlichen Begriff von Revolution, wie er sich dann in den rationalen Naturrechtslehren beginnend mit Puffendorf, Grotius, Locke und Hobbes abspielt. Auch bei ihnen ist Revolution ein Ereignis, eine bestimmte Konstellation von Ereignissen, wobei sie Revolution noch als die Wiederherstellung einer Ordnung begriffen, die zuvor gestört oder zerstört war. John Locke (1632–1704) liefert dafür ein besonders gutes Beispiel, doch die ersten bürgerlichen rationalen Naturrechtslehren gingen alle darauf hinaus, eine gestörte Ordnung wiederherzustellen. Entsprechend begründeten sie Revolution auch als die Wiederherstellung einer alten Satzung und alter Gesetze, so etwa in den Debatten über den Abfall