Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Hier ist schon zu sehen, dass Anarchisten nicht immer nur im Sinn hatten, was Marx ihnen vorwarf, den Staat mit einem Schlag zu beseitigen, sondern als Anarchismus wurde auch bezeichnet, was Alltagsvermittlungen anbot wie der Proudhon’sche Versuch, die Wohnungsfrage zu lösen. Dieser Versuch war ganz zweifellos eine Illusion, aber er hatte in der europäischen Arbeiterschaft bedeutende Wirkung entfaltet.
Ein zweiter Punkt ist, dass die Anarchisten durchgängig vorgeschlagen haben, bestimmte korporative und kooperative Selbstregulierungsformen nicht erst nach der Beseitigung des Kapitalverhältnisses zu entwickeln, Produktivgenossenschaften etwa, die bereits in dieser Gesellschaft auf die neue Gesellschaft vorbereiten sollten. Des Weiteren haben die Anarchisten die Kommunalisierung gefördert, die Dezentralisierung der Selbstregulierung, was im Übrigen im spanischen Anarcho-Syndikalismus Realität wurde. Nicht der Staat soll demnach alles in der neuen Gesellschaft lösen, sondern die Kommunen. Der föderalistische Gedanke, die föderative Struktur relativ autonomer Kommunen im Sinne selbstverwalteter Einheiten, spielt auch bei Proudhon eine große Rolle.
Ein weiteres Element dringt in diesen Anarchismus ein, das vielleicht nicht von Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (1842–1921) stammt, aber dort wie in der russischen Geschichte und auch bei Lew Tolstoi (1828–1910) eine große Rolle gespielt hat: die Assimilierung, die Transposition christlicher Nächstenliebe in das, was bei Proudhon Mutualismus heißt, Gegenseitigkeit oder brüderliche Hilfe. Diese Verbindung von humanitärer Weltanschauung und Christentum, auch von deutschem Idealismus und Christentum, findet sich dann auch in Formen des Anarchismus wieder, etwa bei Gustav Landauer (1870–1919), einem der Rätesozialisten. Er gehört zu denjenigen, die glauben, dass ein Stück Selbstbildung, Selbstorganisation und Selbstregulierung notwendig ist für die Beseitigung von Herrschaft – und zwar schon in dieser Gesellschaft. Das ist zwingend aus der Perspektive zu sehen, dass die Anarchisten nichts vertagen wollten, sondern es unter den Bedingungen realisieren und durchsetzen wollten, die existieren. In Landauers Begriff von Anarchismus, von Herrschaftslosigkeit, von Vertrauen auf die autonome Selbstregulierung der gesellschaftlichen Kräfte in überschaubaren Zusammenhängen ist der Humanismus fast schon penetrant. Schließlich ist im Rätegedanken selbst etwas von anarchistischen Vorstellungen eingegangen. Zumindest lässt sich sagen, dass sich eine bestimmte, subversive Komponente innerhalb des orthodoxen Marxismus der II. und der III. Internationale im Zusammenhang solcher anarchistischen Ideen und des Vorschlags von Selbstverwaltungsorganen, von Räten, herausgebildet hat. Es ist erstaunlich, dass gerade in den Bruchstellen des Übergangs von der II. zur III. Internationale – als die II. noch kritisiert wird, die III. sich aber noch nicht verfestigt hat – ein Werk wie Lenins »Staat und Revolution« (1917) entstehen konnte. Ich kann nur empfehlen, das fünfte Kapitel über die ökonomischen Bedingungen für das Absterben des Staates zu lesen. Hier wird von Lenin selbst eine Tradition eingebracht, die heute völlig vergessen ist, allerdings anti-anarchistisch gewendet, weil die Anarchisten eben doch von einer Abschaffung oder Zerschlagung des Staates gesprochen haben. Das Absterben des Staates ist bei Lenin hingegen ein langwieriger, fast organischer Prozess, aber die Bedingungen dieses Absterbens bestehen darin, dass sich so etwas wie Selbstverwaltung zur Gewohnheitsregel der Menschen ausbildet. Lenin spricht wörtlich davon, dass die Zeit kommen muss und kommen wird, wo die Regierung und die Selbstverwaltung der Dinge für jeden zu einer solchen Selbstverständlichkeit werden, dass keine gesonderte Gewalt über den Individuen notwendig ist. In dieser Lenin’schen Rätekonzeption fanden sich auch die späteren Rätesozialisten wieder wie zum Beispiel Erich Mühsam (1978–1934). Sie verbindet den Anarchismus mit einem Stück Leninismus, womit sich zwei Traditionen treffen, die vorher völlig auseinanderfielen.
Ich möchte hier nur noch erwähnen, dass Franz Mehring (1846–1919), der eine Geschichte der Sozialdemokratie und auch der Entwicklung des Marx’schen Denkens geschrieben hat,108 als einer von wenigen versucht hat, diesen Streit zwischen Marx und den Anarchisten auf Persönlichkeitsstrukturen zurückzuführen, also auf den Anspruch von Marx, innerhalb der weltweiten Linken das Interpretationsmonopol innezuhaben. Mehring sieht darin auch ein psychologisches Problem und weist das relative Recht des Anarchismus im Marxismus nach. Böse Zungen gehen sogar so weit, zu behaupten, Marx habe eine Reihe von wichtigen Gedanken aus dem Anarchismus übernommen. Das glaube ich nicht. Aber es hat sich in der politischen Geschichte selbst etwas wie eine ewige Wiederkehr des Anarchismus gezeigt, worauf noch einzugehen sein wird.
Worauf ich hier hinauswill, ist der im Anarchismus enthaltene Populismus, seine Ausrichtung auf das Volk. Das Volk ist Adressat seiner Ideen, ob es sich um die Gewaltsamkeit der russischen Anarchisten oder die Gewaltlosigkeit von Landauer handelt. Davon abgesehen, haben wir es dabei aber mit völlig verschiedenen Phänomenen zu tun. Die praktizierenden Anarchisten in Russland warfen Bomben und zwar in der richtigen Erwartung, sogar Engels hat das bestätigt, dass in einem despotischen System, wo sich das Wertgesetz noch nicht entfaltet hat, also ein gesellschaftlicher Zusammenhang durch Personen gestiftet wird, der Wegfall eben dieser Personen eine erhebliche Wirkung entfaltet. Die Personalisierung der Gewalt und der Objekte, die Gegenstand dieser Gewalt sind, sind aufeinander angewiesen. In bestimmten Phasen der Russischen Revolution ging das so weit, dass Engels sagte, vielleicht könnte der Blanquismus in Russland – von Anarchisten zu sprechen, wagte er nicht – wirkungsvoll sein: wenn also eine Handvoll Leute die Lunte an das Pulverfass hält, damit es zur Explosion kommt.109 Die explosive, widersprüchliche Lage verschiedener Produktionsweisen mit einer despotischen Struktur eröffnet individuellem Terror eine Möglichkeit, weil Einzelpersonen, die verschwinden, nicht völlig ersetzbar sind: Die akkumulierte Legitimation eines Potentaten ist in solchen Systemen nicht einfach ersetzbar. Es sind zwar Nachfolgeverhältnisse gesichert, aber das ersetzt nicht diese Legitimation. Insofern hatte natürlich der Anarchismus hier auch seinen Gegenstand und seine Berechtigung.
Der Anarchismus Gustav Landauers ist hingegen ein pazifistischer Anarchismus. Im Übrigen ist es eine der Katastrophen des Anarcho-Syndikalismus in Spanien, dass sie als kommunale Pazifisten bewaffnet gekämpft haben. Die Bauern haben noch aus ihren Lastwagen Panzer gemacht. Da war Phantasie am Werk. Doch als das von oben, von Juan Negrin (1892–1956) diktiert wurde, verloren sie ihre Phantasie und ihre Lust zu kämpfen. Hier sind ganz andere Formen des Anarchismus assimiliert, und natürlich noch ganz andere bei Sorel und anderen. Ich wollte einmal zeigen, dass der Begriff ›Anarchismus‹ nur in einem Punkt Identität herstellt, nämlich was die Produktion des Herrschaftssystems selbst anbetrifft. Da gibt es identische Elemente, insofern, dass alles das als anarchistisch bezeichnet wird, was in irgendeiner Weise dieses Herrschaftssystem infrage stellt. Aber diese Identifikation des Anarchismus hat mit seiner geschichtlichen Gestalt außerordentlich wenig zu tun.
Bildung, Abstraktion und Breitseite der Gewalt
Vorlesung vom 21. November 1974
Die Veranstaltung begann mit einer viertelstündigen studentischen Diskussion über die Arbeitsbedingungen studentischer Tutoren und einen Streik von Studierenden der Germanistik. Hierauf beziehen sich auch die einleitenden Ausführungen von Negt, die sein eigenes Verständnis von dem, was seine Vorlesungen sein sollen, besonders deutlich machen.
Es ist ganz klar, dass in diese Universität gesellschaftliche Konflikte hineinspielen, deren Höhepunkt noch nicht erreicht ist, sondern die sich ungeheuer verschärfen werden. Daneben einen ruhigen Lehrbetrieb aufbauen zu wollen, halte ich für illusionär und ausgeschlossen und auch für fatal für die ablaufenden Bildungsprozesse. Ich glaube nicht, dass man neben diesem explosiven Potenzial, das an der Universität existiert und immer noch verstärkt wird, einfach einen normalen Betrieb aufrechterhalten kann.
Zudem führt der Numerus clausus zu zunehmender Konkurrenz