Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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was mit der Struktur dieser Öffentlichkeit zusammenhängt. Meine Kritik an euch aber ist, dass ihr die undurchschauten Strukturen dieser Öffentlichkeit als ein Motiv für eure Solidarisierung nehmt. Das ist ein entscheidender Kritikpunkt von mir. Was Menschen betrifft, die unter Opfern zunächst für ihre Ideen oder Konstruktionen eintreten, auch öffentlich eintreten und damit die Repression des Staates in Kauf nehmen, gilt die Ursprungsunterscheidung von Dutschke: Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein.86 Ob das irgendjemandem schadet, wenn ITT einen Büroraum verliert und erneuern muss? – Natürlich nicht. Erstens sind die versichert, sodass die Behebung des Schadens buchstäblich keinen Schaden darstellt. Wem schadet hier also etwas? Ich will das beantworten mit der Gegenfrage, wem der Schaden nützt. Denn, wenn man hinterher Flugblätter verteilt, die einen Zusammenhang von ITT und Chile-Aktionen des CIA skizzieren, werden diese Flugblätter als mögliche Aufklärung durch den ursprünglichen Akt schon blockiert. Ich halte es schlicht für ausgeschlossen, dass sich dadurch das Interesse auf Chile fokussiert und die Leute den Zusammenhang begreifen. Sie begreifen eher den Zusammenhang, dass Chile nicht die Bundesrepublik ist. Das bedeutet so viel, dass jede solcher Aktionen, es sei denn, es wären Notwehraktionen, insgesamt einer solchen Aufklärung und einer solchen Politik schaden. Dass das nicht weiterführt, habe ich aus der Protestbewegung gelernt.

      Ich glaube auch, dass Momenterfolge irgendwelcher Art, in denen man sich sonnt, langfristig großen Schaden anrichten. Wirklich revolutionäre Gewalt ist getragen von der Arbeiterklasse. Andere revolutionäre Gewalt ist einfach nur eine Einbildung. Zudem ist die Bewunderung für existenzielle Entschlüsse mit Opfern der Person ein Stück Romantizismus, mit dem auch die RAF verknüpft ist. Für eine Reihe von Leuten erledigt die RAF das, was sie sich selbst nicht zutrauen. Diese Leute erblicken ihr eigenes Verdrängtes in der Aktivität der RAF. Das bedeutet, dass die geschichtliche Bewunderung für Rechtsbrecher, die tun, was man möchte, aber selbst nicht wagt – ob es nun Robin Hood ist oder ein anderer –, auch das Verhalten gegenüber dieser RAF prägt, nur mit einer Besonderheit: Die traditionellen Rechtsbrecher hatten eine Basis. Ob sie Lebensmittel verteilt haben, ob sie den Reichen etwas weggenommen und den Armen zugesteckt haben, sie konnten manchmal jahrzehntelang untertauchen. Manche Bauerngehöfte in den Vogesen sind Jahrzehnte besetzt gewesen von solchen Räuberhauptleuten, die den Grundbesitzern ihr Eigentum weggenommen und es verteilt haben.

      Was hat in diesem Sinne die Bevölkerung von der RAF? Doch gar nichts! Ganz im Gegenteil, es werden nur Ängste und ein bestimmtes faschistisches Potenzial in der Gesellschaft dadurch mobilisiert und durch die bürgerliche Öffentlichkeit in einem ungeheuren Maße verstärkt und umstrukturiert. Auch wenn diese nicht durch die RAF selbst erzeugt werden. Potenziell halte ich zum Beispiel die CSU-Politik für viel gefährlicher, was die Verfassung anbetrifft. Der Faschismus hat sich immer im Zentrum abgespielt, nicht in den Randgruppen. Die Tatsache, dass Intellektuelle, Universitäten, Ärzte und Techniker ihrer ganzen Disposition nach faschistisch waren, einschließlich des Staatsapparats, hat die Möglichkeit des Faschismus als Massenbewegung ausgemacht. Wenn es diese Hilfsleistungen im Zentrum nicht gegeben hätte, wäre der Faschismus zusammengebrochen. Aber das war eine andere Situation, und man muss mal differenzieren, was der traditionelle Faschismus war und was faschistisches Potenzial ist, das sich in bestimmten Wahlen und anderen Zusammenhängen ausdrückt, um begreifen zu können, dass diese aktuelle Politik bereits vorhandene Ängste artikuliert und strukturiert – und ich sage ausdrücklich vorhandene Ängste, denn ich glaube nicht an das gegenseitige Aufschaukeln von Rechts und Links.

      Was macht einen Streik aus? Streiks sind Massenaktionen der Arbeiter mit klar definierten Zielen zur Durchsetzung bestimmter Forderungen. Das heißt: Streiks ohne Massen gibt es eigentlich nicht. Was sollte das sein? Ohne Massen lässt sich gar keinen Druck auf die Gesellschaft ausüben. Ein Streik ohne Massen, von nur 10 oder 20 Leuten, verändert nicht die Verhandlungsbedingungen, der verändert gar nichts. Streiks sind per se Massenaktionen, in denen aber nie, selbst nicht im Mai 68, der Gewaltakt gegen Personen und Dingen Strategie ist. Ganz im Gegenteil: Jene Solidarisierungen damals haben sich erst fortgepflanzt über das ganze Land, als eine friedliche Demonstration mit Waffengewalt niedergeschlagen worden ist. Tatsächlich ist die Gewalt von der Arbeiterbewegung immer als eine Gewalt des Systems definiert worden und als Gewaltakt des Systems. Innerhalb der Logik einer Streiksituation, dafür gibt es nun in der Tat viele Beispiele, ist Gewalt als Gegengewalt, die sich ausdrückt gegen Personen, Einschüchterung von Personen, gegen Sachen, eine zufällige Sache, keine strategische Konzeption. Das ist ein entscheidender Unterschied.

      Ich habe noch ein Moment vergessen, das mir für sozialistische Politik wichtig zu sein scheint. In der bestehenden Gesellschaft ist für mich sozialistische Politik unter anderem mit einer bestimmten Form der Gegenöffentlichkeit verbunden, also auch der Diskussionsmöglichkeit über bestimmte strategische und taktische Schritte. Wenn diese Diskussionsmöglichkeit abgeschnitten ist, auch aus objektiven Gründen – ich sage nicht, dass die RAF-Leute das nicht mehr wollten, die konnten es nicht mehr –, hat das schwerwiegende Folgen auch für eine Art der Selbsterfahrungskritik, die nicht mehr artikulierbar ist nach außen und damit eigentlich keine Politik mehr ist. Was Selbsterfahrung ist, ist mit Identifikationsprozessen verknüpft, ist mit Selbstbestätigung verknüpft. Ich erinnere nur an das fast zynische Argument von RAF-Angehörigen, der Tod von Petra Schelm (1950–1971) sei ein ungeheurer Sieg der RAF gewesen. Das ist für mich schlicht zynisch, und ich muss gestehen, vor solchen Argumenten habe ich Angst. Ich weiß nicht, was mit mir passieren würde, wenn sie die Macht bekommen. Sogar die russischen Anarchisten haben solche zynischen Argumente vermieden. Derselbe Zynismus liegt auch darin, dass man einfach einen Richter abknallt. Möglicherweise wollte man ihn entführen. Aber das man ihn abknallt, ist Ausdruck der Verzweiflung, und hat nichts mit irgendwelchen Zusammenhängen zu tun, für die die europäische Arbeiterbewegung einmal einstand. Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich mich darauf immer wieder beziehe, aber das ist nun mal der Normenzusammenhang, in dem ich argumentiere. Für mich sind der Marxismus und die europäische Arbeiterbewegung nicht nur einfach eine vergangene Stufe, sondern das, was da erkämpft worden ist, selbst die Niederlagen, haben für mich eine gewisse Verbindlichkeit in der Durchsetzung humanerer Ziele.

      Es gibt in der Tat Möglichkeiten, dass die Mittel die Zwecke kaputtmachen. Die Reflektion auf die Dialektik von Mittel und Zwecken ist eine wesentliche Reflexion einer sozialistischen Arbeiterbewegung. Das bedeutet gar nicht, dass die Arbeiterbewegung groß sein muss. Das Argument, dass die kleinen Gruppen nicht dieses Recht hätten, dass man sich mit denen immer nur solidarisieren könnte, wenn sie die Chance haben, sich zu erweitern, trifft nicht zu. Es haben nur diejenigen Gruppen, jedenfalls was meine Person betrifft und ich rede nur für meine Person, ein Recht auf Solidarität, einen Solidaritätsanspruch, die in ihren Aktionen, Programmen, in ihrem realen Verhalten und nicht zuletzt in ihrem Denken ein Stück von dem repräsentieren, was jahrhundertelange Kämpfe der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten ausgezeichnet hat, und das ist immer mit einem Stück mehr an Humanität und Humanisierung verbunden gewesen. Der Begriff der Solidarität ist ein Begriff, der auf die gegenwärtigen Verhältnisse zielt. Aber der Identifikationsmechanismus, der jetzt in Gang gesetzt ist, ist ein Stück Selbstillusionierung und Verschleierung von notwendigen Diskussionen über diese Positionen und auch von notwendigen Momenten einer sozialistischen Politik, wie ich sie im Auge habe.

      Mein Argument nehmen diese Leute überhaupt nicht wahr, und die Beschimpfungen, die ich von ihnen erfahren habe, will ich hier ganz beiseite lassen, weil sie mit Argumenten nichts zu tun haben. Ich beschäftige mich mit der RAF, solange irgendeiner da ist, der meint, das wäre richtige Politik. Das ist mein Motiv der Beschäftigung mit der RAF: Solange noch jemand da ist, der die Idee hat, das sei richtig, solange muss ich mich damit auseinandersetzen und alle zur Verfügung stehenden politischen Möglichkeiten nutzen, um diese Position zu bekämpfen.

      Heute eine Studentenbewegung zu erzeugen unabhängig von den Fraktionen, die es gibt, wäre die Belebung eines Leichnams. Das ist Totenbeschwörung, und Aktionismus ist eine Scheindifferenzierung, als ob der Ortswechsel eine wichtige Sache wäre für den Inhalt. Es kommt vielmehr darauf an, was die Studenten bei der Artikulation ihrer Interessen und Aktionsformen innerhalb von sozialistischen Konzeptionen tun können, damit sie sich nicht weiter von anderen

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