Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt

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Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt

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heißt aber nicht, dass der Staat selbst den Produktionsprozess, das zentrale Gewaltverhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, konstituiert hat. Dieses zentrale Gewaltverhältnis ist in der globalen Phase der ursprünglichen Akkumulation öffentlich hergestellt worden – mit öffentlicher, mit außerökonomischer Gewalt –, hat sich aber nicht durch den ständigen Eingriff dieser öffentlichen Gewalt, sondern immer nur phasenweise reproduziert. Das bedarf allerdings einer Einschränkung: Ich glaube, dass ein Zug der ursprünglichen Akkumulation gegenüber menschlichen Fähigkeiten und gegenüber der Umwelt strukturell mit dem Kapitalismus verbunden ist. Ich glaube also nicht, dass sich das System auf der Ebene des Gewaltlosen, des Austausches von Lohnarbeit und Kapital, halten konnte. Entsprechend glaube ich auch, dass der Satz von Marx – dem Arbeiter geschehe kein Unrecht, wenn er seine Arbeitskraft verkauft, solange er nicht übertölpelt oder übers Ohr gehauen wird – nur eine Seite des Kapitalismus beschreibt. Die zweite Seite ist die permanente ursprüngliche Akkumulation. Marx bezeichnet das in der Gewerkschaftsfrage als die beständigen Gewaltübergriffe des Kapitals, die durch die Gewerkschaften als proletarische Organisationsformen abgewehrt werden.80 Diese Gewaltübergriffe sind Alltagspraktiken des Kapitals, welche die Alltagskatastrophen der Arbeiter auf ganz verschiedenen Ebenen mitkonstituiert haben, zum Beispiel auf der Ebene der Okkupation von Lebensverhältnissen.

      Nie hat sich das Kapital darauf beschränkt, nur innerhalb der Fabriktore allein die Arbeitskraft auszunutzen. Das Kapital hat immer die Tendenz gehabt, den Lebenszusammenhang des Arbeiters zu erfassen. Am deutlichsten, wenn auch vielleicht nicht am folgenreichsten, zeigt sich das an der Ideologie des Hauses zum Beispiel der Krupps, Siemens’ und so weiter. Da heißt es nicht »Konzern«, sondern »unser Haus«, praktisch »unsere Familie Siemens«. Günter Wallraff 81 hat das sehr schön dargestellt in der Analyse von alten Kruppianern, Leuten, die vierzig, fünfzig Jahre lang treue Anhänger der Familie Krupp gewesen sind, ihre Wohnung vor Ort am Werk hatten, und dann feststellen, wie sie betrogen worden sind, indem man ihnen alle zehn Jahre eine billige Silbermedaille oder ein Fünfmarkstück aus Gold zugesteckt hat als Treueprämie. Das war ein permanenter Betrug, unter dessen Ebene sich die Okkupation ihrer Fähigkeiten, die vollkommene intensive Ausnutzung ihrer Arbeitskraft vollzogen hat. Das heißt, dieses Moment von Gewalt innerhalb der Gewaltlosigkeit des Austauschprozesses zwischen Lohnarbeit und Kapital halte ich für ein konstitutives. Ein anderes Beispiel: Es gibt diesen berühmten Roman von Upton Sinclair »Am Fließband. Mr. Ford und sein Knecht Shutt«. Das ist der erste große Fordroman. Es geht in der Tat um das Fließband, es geht aber wesentlich um die Lebensgeschichte von Henry Ford, vom Anfang der Autoproduktion bis zum Ende. Ford nimmt mit wachsendem Kapital und wachsenden Fähigkeiten ganz Detroit und andere Städte ein, um sie zu einer einzigen Produktionsöffentlichkeit zusammenzuschließen und um Polizei und Behörden zu okkupieren. Hierzu setzt sich parallel die Katastrophengeschichte des Fordarbeiters auf ganz verschiedenen Ebenen durch. Zum Beispiel überwacht Ford das Leben der Arbeiter auf der Grundlage von sittlichen Maßstäben: Wer sich anständig verhält, kriegt eine Prämie. Diese Prämien führen dazu, dass die Händler ihre Preise hochsetzen. Die sagen, wenn die Arbeiter mehr kriegen und sich anstrengen, sittlich zu leben, können wir unsere Preise erhöhen. Ein System kommt in Gang, aus dem eine solche Arbeiterexistenz nicht mehr herauskommt, bis zur einzigen Einsicht, welche die Hauptfigur hat, als sie an einer Gewerkschaftsversammlung teilnimmt, in der geschossen wird. Die Verflechtungen und die Schuldgefühle, die der Protagonist gegenüber Ford empfindet, ergeben sich aus der Okkupationsgewalt des Kapitals. Ich erwähne diesen Zusammenhang nur, um die strukturelle Gewalt gegenüber den Betroffenen zu zeigen. Am liebsten möchte man sich den Arbeiter ganz aneignen, seinen ganzen Lebenszusammenhang verwerten, und diese Tendenz funktioniert zweifellos arbeitsteilig: Bestimmte Medienverbundsysteme sind darauf abgestellt, den Lebenszusammenhang der Arbeiter ganz zu verwerten und in den Verwertungsprozess hineinzuziehen.82 In dieser Weise hat Kant völlig Recht: Gewalt in ganz unmittelbarem, direktem Sinne und nicht in verschleierter Form ist das konstitutive Moment dieser Gesellschaft.

      Man hat innerhalb des zentralen Gewaltverhältnisses immer zwei Gewaltmomente. Das eine ist die unmittelbare Gewalt, das andere die institutionalisierte außerökonomische Gewalt, die für die Betroffenen eine Existenznotwendigkeit ist: für den Kapitalisten, um zu verwerten, und für den Arbeiter, um Leben zu können. Der Kapitalismus möchte an sich das institutionalisierte Gewaltverhältnis wieder aufbrechen und die unmittelbare Gewalt, also eine ursprüngliche Akkumulation wiederherstellen, was nur deshalb nicht gelingt, weil es mächtige Gewerkschaften gibt. Groß ist der Unterschied in diesen Gewaltverhältnissen allerdings nicht.

      Kant würde sagen, das Gewaltmoment sei zwar keine Naturanlage, aber die Natur habe doch für eine solche Form der Auseinandersetzung zwischen Menschen gesorgt, die sich verselbstständigen kann bis hin zu Barbarei und Despotismus. Nun, sagt Kant weiter, hat der Mensch aber gleichzeitig Vernunft, und diese ist fähig, die Gewalt zu einem Mittel zu machen. Vernunft strukturiert Gewalt, sodass der Mensch sie benutzen kann, um etwas ganz anderes, ja das Gegenteil zu erzeugen, Zustände nämlich, in denen Gewalt in dieser Form überflüssig ist. Das ist die Ambivalenz des Gewaltbegriffs bei Kant: Der Krieg kann eine Schlachtbank sein und gleichzeitig die Menschen auf die Vernunft zutreiben, indem durch ihn Friedensverträge, rechtliche Regelungen zustande kommen, die Bedingungen fixieren, unter denen er überflüssig ist.

      Im Folgenden möchte ich die Gewaltformen noch etwas differenzieren, wobei ich mich auf ein kurzes Gespräch mit Peter Brückner (1922–1982) beziehe, um das spezifische Moment dieses bürgerlichen Gewaltbegriffs zu verdeutlichen. Ich habe bereits skizziert, dass es zur Ideologie des Bürgertums gehört, von der grundsätzlichen Möglichkeit einer Trennung der gewaltlosen Sphäre von der Sphäre der Gewalt auszugehen. Das findet sich nicht zuletzt im Begriff der Öffentlichkeit wieder: Alles, was im öffentlichen Bereich abläuft, orientiert sich im Grunde am Modell der Parlamentstribüne und der Parlamentsdebatten, die nur in Ausnahmefällen gewaltsam verlaufen. Dieses Modell des Parlaments und des Marktes dient dazu, ganz klare Bereiche abzustecken, in denen eine gewaltlose Kommunikation möglich sein soll und in denen legitime Gewalt auftreten kann, ganz abgesehen von bestimmten Begriffsbildungen bei Max Weber (1864–1920), der den Staat als Monopol legitimer Gewaltanwendung definiert, wobei Legitimität hier nur bedeutet, dass keiner etwas dagegen unternimmt.83 Der Staat hat laut Weber das Gewaltmonopol, weil es keine andere Instanz gibt, die ihn zwingen kann, dieses nicht auszuüben. Wenn das Volk dem staatlichen Befehl nicht mehr folgt – Legitimität ist Folgebereitschaft –, dann herrscht Aufstand oder Revolution: Das Gewaltmonopol wird aufgehoben und ein neues installiert. Auch bei Max Weber findet sich ein Gewaltbegriff, der sehr subtil und fragil und keineswegs so definiert ist, dass sich gewaltsame Menschen von friedfertigen unterscheiden ließen.

      Es fragt sich nun, was die bürgerliche Gewalt im Kantischen Sinne auszeichnet gegenüber späteren und vor allem gegenüber feudalen Gewaltformen. Man kann in der Tat behaupten, dass die Gewalt bei Kant insofern eine pädagogische Dimension gewonnen hat, als sie zum Mittel der Erziehung nicht des Einzelnen, sondern eher des Menschengeschlechts insgesamt geworden ist. Im engeren pädagogischen Bereich vertritt Kant keineswegs das Gewaltprinzip, sondern er gehört vermutlich zu denjenigen, die einsehen, dass Lernprozesse nicht mit Gewalt herzustellen sind. Aber Lernprozesse soweit sie die Gattung und die Gesellschaft betreffen, sind ihm nach sehr wohl mit gewaltsamen Mitteln herzustellen. Mit anderen Worten, diese Gewalt, die bei Kant auch etwas Sympathisches an sich hat, dient insoweit einem Zweck, ist zweckbestimmt, als sie tatsächlich die Menschen auf ihre eigenen objektiv notwendigen Lebensformen bringt.

      Wie ich davon sprach, dass der Naturbegriff bei Kant einerseits etwas von einem pfleglichen Umgang mit Menschen und Natur hat, etwas Bergendes und Vorsorgendes, so hat auch buchstäblich dieser Gewaltbegriff keineswegs nur etwas menschenfeindliches, sondern ebenfalls etwas menschenfreundliches, indem er moralische Anlagen zum Tragen bringt. Er macht eine moralische Anlage sichtbar, die sich im Alltag des Bürgers nicht mehr zeigt. Die Gewalt bringt die Gattungsanlagen ins Licht der Öffentlichkeit. Darauf jedenfalls deuten Zeichen hin, selbst wenn es sich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt. Das heißt, diese Gewalt hat nicht mehr dieses okkupative, aneignende, Mensch und Natur aufzehrende Moment wie Gewalt in vorbürgerlichen Gesellschaften. Während dort Gewalt schlicht mit Raub verknüpft

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