Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Es gab anfangs einzelne politische Ansätze in der RAF. Seit der Befreiung von Andreas Baader (1944–1977) jedoch ist die Illegali-sierung zum existenziellen Zwang der Beteiligten geworden, und unter diesen Voraussetzungen ist eine sozialistische Politik nicht mehr möglich. Diese Randgruppengeschichte, die wurde ja nicht von der RAF entdeckt und auch nicht von Anfang an betrieben, sondern die RAF hat zunächst noch bestimmte Prozesse in ihre Politik eingegliedert. Aber seit der Befreiung von Baader vollzieht sich eine ganz andere politische Linie.
Es besteht doch ein qualitativer Unterschied zwischen einer Gruppe, die in ihrer Konzeption Erweiterung vorsieht und nichts unterlässt, um diese Erweiterung zu fördern, und einer Gruppe, die herumballert. Zwar kann ich Letztere psychologisch verstehen, aber das bedeutet nicht, dass ich ihre Handlungen als Politik begreife: Das sind Verzweiflungsaktionen. Zur alten sozialistischen Tradition gehört es, dass man nicht unentwegt von Waffen und bewaffnetem Kampf redet, sondern nur dann, wenn es notwendig ist. Diese Gruppe redet aber unentwegt von Waffen und Bewaffnungen und ist dabei selbst bewaffnet. Das ist keine Möglichkeit, um Zusammenhänge von Gewalt innerhalb der Gesellschaft zu analysieren und zu begreifen, sondern ist darauf abgestellt, bewaffneten Kampf zu demonstrieren. Nur stellvertretend wird der bewaffnete Kampf geführt. Das ist allerdings ein altes Syndrom des russischen Anarchismus, und dieser Traditionszusammenhang ist nicht zu leugnen, den muss man als anständiger Soziologe analysieren.
Man kann die republikanischen und liberalen Freiheiten nur einklagen, indem man gleichzeitig sagt: Eine Politik, die sich darauf stützt, republikanische Freiheiten entweder völlig zu ignorieren oder zu zerstören, ist zum Scheitern verurteilt. Nur das schafft die Möglichkeit einer ungespaltenen Solidarisierung mit denjenigen, die in Gefängnissen leiden. Das ist jedenfalls für mich die Bedingung der Möglichkeit dafür.
Wenn ihr nun zunächst Solidarisierung mit den Gefangenen fordert, weil angeblich die bürgerliche Öffentlichkeit Zusammenhänge herstelle – dabei sind die Zusammenhänge nicht konstruiert, das lasse ich mir nicht einreden –, dann ist das eine Wiederholung einer ganz fatalen Geschichte, in der sich die Protestbewegung von 1968 ihre eigenen politischen Ziele und Erfolge durch die bürgerliche spektakuläre Öffentlichkeit vortragen ließ. Dass die Protestierenden glaubten, die Resonanz in der Öffentlichkeit sei zentral, war fatal. Die haben mehr auf die Öffentlichkeit geschaut, als auf das, was sie machten, und nicht reflektiert, was sie wirklich taten. Wenn das jetzt wieder beginnt, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, die Massenmedien, die Staatsorgane, Zusammenhänge herstellen, die erst nachgewiesen werden müssen, bedeutet das für uns die Notwendigkeit, wenn wir eine autonome sozialistische Politik betreiben wollen, diese Zusammenhänge so nüchtern zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Sonst entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit, dem am meisten diejenigen unterworfen sind, die gar nichts von ihr halten. Das ist ein Mechanismus und keine dialektische Verhaltensweise gegenüber bürgerlicher Öffentlichkeit. Man meint diese Öffentlichkeit, wie Brecht sagt, zur Umfunktionalisierung für sozialistische Ziele zu nutzen, doch das ist nicht der Fall. Denn was von der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgegriffen wird, ist Reaktionsmaxime der eigenen Politik. Daraus kann nichts werden, und wenn es hundert Jahre dauert. Daraus kann immer nur dasselbe werden, nämlich eine völlige Mechanisierung dessen, was Strategie, Taktik und sozialistische Politik ist, und das führt automatisch zur Selbstisolierung.
Sich damit in irgendeiner, nicht klar definierten Form zu solidarisieren, halte ich für unmöglich. Die Solidarität mit den Gefangenen ist ein ganz anderes Problem und berührt die RAF genauso wie einen beliebigen Untersuchungshäftling, der durch Fahrlässigkeit umkommt. Ich benutze nicht den Begriff ›Mord‹ dafür, das möchte ich ganz offen sagen. Denn es gibt einen viel treffenderen juristischen Ausdruck, den ich auch damals benutzt habe, entschuldigt wenn ich daran erinnere, für die Erschießung von Benno Ohnesorg (1940–1967), nämlich diesen Begriff dolus eventualis. Der bedeutet, dass man den Tod eines Menschen aufgrund der objektiven Situation in Kauf nimmt, einkalkuliert. Der Totschlag wird dabei nicht als bewusste Zielsetzung, sondern aufgrund eines bestimmten Einsatzes in Kauf genommen. Genau das hat sich bei Benno Ohnesorg zugetragen. Karl-Heinz Kurras, der Ohnesorg umgebracht hat, war kein gedungener Mörder. Nur die Fatalität dieses Masseneinsatzes mit Waffen, die ganz klar auch zu schießen bestimmt waren, das ganze Arrangement dieser Schlacht war darauf abgestellt, dass es Tote gibt. Das bezeichnet einen ähnlichen Zusammenhang wie hier in den Gefängnissen. Ich kenne nicht im Einzelnen die Tatsachen, aber vieles deutet darauf hin, dass, ob nun durch Hungerstreik oder anderes in diese Richtung – auch psychologische Dinge können einen Menschen so kaputtmachen, dass es nur noch eine Frage ist, wann das in die physische Existenzgefährdung eingeht –, dass hier tatsächlich mit diesem dolus eventualis gearbeitet worden ist. Dies geschah aber nicht in Hinblick auf die Ermordung eines Häftlings, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, sodass auch der Tod eines Häftlings durch Fahrlässigkeit der medizinischen Betreuung, durch Aufseher und so weiter, also durch das ganze Arrangement einer verschärften, auf reine Sicherheitsinteressen abgestellten Haft, in Kauf genommen worden ist.
Man muss darüber reflektieren: Es ist ständig von Mord die Rede, dabei ist das ein sehr gefährliches Wort, und es gehört zur Selbstaufklärung von Sozialisten, dass sie solche Begriffe nicht einfach mechanisch benutzen, weil sie für ihre Identifizierung und für plakative Momente in der Öffentlichkeit gewisse Bedeutung haben. Denn das führt langfristig zur Verschleierung der Zusammenhänge, in denen sie selbst stehen.
Ich glaube, das sind Punkte, die muss man auch mal frei von Identität und Identifizierungszwang erörtern können. Nur dann kann man dieses Phänomen RAF, da würde ich euch in der Tat Recht geben, auch in der historischen Aufarbeitung dieser Konstruktionen verstehen. Im Falle von Ulrike Meinhof (1934–1976) war nicht absehbar, welche Politik sie machen würde. Ich weiß nur, dass sie ein halbes Jahr vorher die Absicht hatte, und ich wollte ihr dabei helfen, ein Suhrkamp-Bändchen mit ihren journalistischen Arbeiten herauszugeben. Sie betrachtete ihre journalistische Arbeit als einen Beitrag für eine neue Form des mit Reportage verbundenen Journalismus. Das hat Ulrike Meinhof, ein halbes Jahr vorher, intensiv betrieben. Politisch ist auch nicht so diskutiert worden, dass man hätte sagen können, hier deutet sich eindeutig eine Tendenz der Illegalisierung an. Das ist einfach nicht wahr. Die Konstellation, auch die persönliche Konstellation dieser Leute, hat zu dem geführt, was Frantz Fanon (1925–1961) in »Die Verdammten dieser Erde« (1961) analysiert hat, nämlich die Tatsache, dass bestimmte Gruppierungen und Einzelpersonen vollendete Tatsachen schaffen wollten, auch politisch schaffen wollten, auf dass sie in die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr zurückkehren können, selbst wenn sie wollten. Es ist in der Geschichte vielfach so gewesen, dass tatsächlich Einzelne einen Mord begehen oder wenigstens derart mit dem Gesetz in Konflikt geraten mussten, dass sie keinen Verrat mehr begehen konnten und eine Form von Solidarisierung erzwungen war. Ich will das gar nicht unmittelbar übertragen. Ich meine nur, dass man einmal solche Mechanismen der Identifikation durch Illegalität erläutern muss, wo doch heute Illegalität der Tod jeder sozialistischen Bewegung ist. Denn daran halte ich steif fest: Es kann mir keiner beweisen, dass die Illegalisierung im gegenwärtigen Zeitpunkt in irgendeiner Weise nennenswerten Sinn für die Politik haben könnte. Das wäre eine Katastrophenpolitik.
Es ist auch bezeichnend, dass diejenigen Leute, die mit Entschiedenheit die RAF verteidigen, natürlich keine RAF-Politik machen. Was ich euch vorwerfe, ist viel schlimmer, dass ist die Tatsache, dass ihr überhaupt keine Ahnung von dem habt, was bürgerliche Öffentlichkeit ist, weil ihr an die bürgerliche Öffentlichkeit Ansprüche stellt, die sie von ihrer Struktur her nicht erfüllen kann. Dass die bürgerliche