Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Wenden wir uns nun der zweiten Aussage im Kantischen Schema zu, in der es heißt: »B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism).« Kant hat immer Lösungsmöglichkeiten für Konflikte im Auge und sieht klar, was sich in der Geschichte abgespielt hat, und doch kommt er auch beim Despotismus zunächst zu einer sehr merkwürdigen Bestimmung, denn Despotismus ist eigentlich nicht in Verbindung mit dem Gesetz zu verstehen.
Der Fortschritt zum Bürgertum liegt darin, dass der Despot, dadurch dass er Gesetze gibt, seine Willkürherrschaft einschränkt – noch sind die Gesetze nicht aus der Souveränität des Volkes legitimiert, jedenfalls nicht in der Realität, der Fortschritt besteht vielmehr noch in der Verbürgerlichung des Despotismus. Der Hobbes’sche Staat ist seiner Form nach ein autoritärer, seinem Inhalt nach jedoch ein vollkommen bürgerlicher Staat. Diese Gesetzeshaftigkeit gesellschaftlicher Regeln des Zusammenlebens ist ein bürgerliches Element, selbst wenn diese Gesetze von einem Despoten erlassen werden. Das ist bei Friedrich II. der Fall, der sich allenfalls mit ein paar Leuten beraten hat, bevor er Gesetze erließ, was aber gegenüber dem Hobbes’schen Staat nichts Neues darstellt. In der Generalität des Gesetzes aber lag etwas fundamental Neues, beruhten die feudalen Gesetze doch noch auf Exemption, also auf der Ausnahme. Auch da hatte es natürlich allgemeine Gesetze gegeben, insbesondere im strafrechtlichen Bereich, doch die Allgemeinheit des Gesetzes in allen Bereichen war das, was den Despotismus beschränkte.
Nun kommt Kant und behauptet, Gesetz und Gewalt ohne Freiheit seien Despotismus. Was bedeutet diese Freiheit? Es ist die transzendentale Idee der Möglichkeit der Begründung von Gesetz überhaupt. Die liegt darin, dass die vereinigte Willkür des Volkes dem zustimmen könnte – vorausgesetzt, schränkt Kant ein, das Volk sieht seine objektiven Interessen ein. Da es dazu aber meist nicht in der Lage ist, so Kant, ist die empirische Legitimation nicht notwendig, ja häufig sogar schädlich, was er in der Rechtstheorie noch sehr viel klarer ausdrückt. Die Kritik an den vorherigen Gesetzen und Souveränen besteht im Grunde darin, dass das Gesetz nicht auf diesen transzendentalen Punkt gebracht ist, dass die Gesetzgeber es einfach aus der auctoritas, der Souveränität entscheiden, also dezisionistisch. Kant sagt demgegenüber: Hier müsse ein Moment von Freiheit enthalten sein. Freiheit bedeutet auf der Rechtsebene, dass jeder Mensch das Recht hat, über einen bestimmten Umkreis von Willkür zu verfügen. Die Willkürsphären des Menschen sind dabei so definiert, dass sie mit anderen Willkürsphären nicht aufeinandertreffen. Das heißt mit anderen Worten: Das Gesetz formuliert die Bedingungen, unter denen die Willkür eines Menschen mit der äußeren Willkür aller anderen vereinbar ist.76 Damit formuliert Kant einen ganz wesentlichen Punkt des bürgerlichen Selbstverständnisses. Diese Willkürsphären sind völlig freigesetzt von Moralität und Zwang, wodurch der bürgerliche Begriff der Intimität zu einer fassbaren Kategorie wird. Intimität beschreibt jenen Bereich, in dem es keinen etwas angeht, was passiert, der buchstäblich nicht öffentlich ist. Als das schlechthin Nicht-Öffentliche ist dieser Bereich einer der freien Willkür, was aber nicht identisch ist mit Freiheit, weil es diese für Kant nur aus dem Gesetz gibt. Willkür bedeutet, dass der Mensch dort tun und lassen kann, was er will, vorausgesetzt, dass er andere nicht verletzt, dass er nicht auf die Willkürsphären anderer stößt.
Es muss also den Gesetzen die Idee zugrunde liegen, dass ihnen prinzipiell alle Menschen zustimmen könnten, wenn sie einsichtige, vernünftige Wesen wären, denn dann bedarf es keiner Zwangsgesetze mehr. Da sie aber nun einmal vernünftige Wesen sind, die mit Naturanlagen zur Unvernunft und zum Bösen ausgestattet sind, bedarf es dennoch zwingender Gesetze, um das Verhältnis zwischen potenzieller Unvernunft und Vernunftfähigkeit zu regeln. Die Kantische Philosophie rankt sich um die Frage: Wie macht man aus unvernünftigen Wesen vernünftige? Wie erreicht man bei einem Wesen, das einerseits Anlagen zur Vernunft und andererseits Anlagen zur Unvernunft hat, dass es sich durch eigene Gesetze einschränkt?
Jetzt beginnt eine Verschiebung, die sehr merkwürdig ist. In den ersten beiden Aussagen stehen »Gesetz und Freiheit« und »Gesetz und Gewalt« jeweils für sich, und Gewalt ist ein Bestandteil dieses Zusammenhangs. In den Aussagen »Gewalt ohne Freiheit und Gesetz ist Barbarei« beziehungsweise »Gewalt mit Freiheit und Gesetz ist Republik« verkehrt sich jedoch das Subjekt des Ganzen. In den ersten Bestimmungen waren »Gesetz« und »Freiheit« die Subjekte, und »Gewalt« war das Prädikat. Jetzt aber nimmt Kant für zwei Formen der Gesellschaft, für die Barbarei und für die Republik, Gewalt als Subjekt: Gewalt ohne Gesetz und Freiheit ist Barbarei, wobei Gewalt hier nicht näher qualifiziert ist; es ist Gewalt beginnend mit Naturkräften, schlicht mit der körperlichen Stärke der Menschen, die gegenüber Schwächeren zum Einsatz kommt, bis hin zu staatlichen Gewaltmaßnahmen. Das ist noch einfach zu verstehen, aber das Bemerkenswerte ist, dass Gewalt mit Freiheit und Gesetz als Republik erscheint, Gewalt also das Substanzielle, das Subjekt ist, während Freiheit und Gesetz Prädikate sind. Das bedeutet, dass die Gewalt zwar nicht das Primäre ist, aber doch essenziell für die republikanische Verfassung, während viele andere Dinge fehlen können.
Wenn aber die Gewalt das konstituierende Element der bürgerlichen Gesellschaft ist, so stellt dies einen totalen Gegenentwurf zum bürgerlichen Selbstverständnis dar, wie es sich etwa bei Benjamin Constant (1767–1830) in »Über die Gewalt« ausdrückt. Dieser hat die erste große Abhandlung über diesen Sachverhalt im nachnapoleonischen Zeitalter geschrieben und festgestellt, alle Gewalt, die es gibt, sei vorbürgerliche Gewalt.77 Solange also Gewaltsysteme bestehen, ist das bürgerliche Zeitalter noch nicht angebrochen. Das bürgerliche Zeitalter und die industrielle Produktion werden als schlicht gewaltlos interpretiert. Ähnliches findet sich bei Auguste Comte (1798–1857), der Stadien der Gewaltreduktion aufzeigt und für den die industrielle Gesellschaft, wenn sie sich einmal etabliert hat, grundsätzlich eine gewaltlose ist. Wer sollte da noch gegen wen Gewalt ausüben wollen, wo Arbeiter und Industrielle beide produktive Arbeit leisten, das heißt kein parasitäres Element mehr enthalten ist? Das Selbstverständnis sowohl des angelsächsischen Liberalismus als auch bestimmter soziologischer Theoriebildung, die eine industrielle Revolution statt der politischen ins Zentrum stellen, beruht auf der Gewaltlosigkeit: Die bürgerliche Gesellschaft, die kapitalistische Gesellschaft produziert sich und reproduziert sich, wenn sie auf der Höhe ihrer Entwicklung steht, nicht mehr nach Prinzipien von Gewalt. An dieser Auffassung, das sei hier nur am Rande bemerkt, sollte sich bis zu Marx nichts ändern. Die außerökonomische Gewalt tritt nur noch in der Sicherung des zentralen ökonomischen Gewaltverhältnisses auf, aber der hier waltende Mechanismus ist gewaltlos und beruht stattdessen auf Tausch.
Kant hingegen sagt, für die bürgerliche Gesellschaft sei eine zweckbestimmende Gewalt das konstitutive Element. Das ist keine Fetischisierung der Gewalt, auch kein Mythos, wie ihn Georges Sorel (1847–1922) produziert hat,78 sondern die nüchterne Einschätzung, dass ein in bestimmter Weise angelegter Mensch in dieser so strukturierten Gesellschaft nicht auf gewaltfreie Weise zum Menschen werden kann, sondern nur durch jene Mittel der Gewalt, die allerdings vom Philosophen definiert werden im Sinne einer Einschränkung, einer Regulierung und einer gesetzmäßigen Ausdrucksweise. Man kann Gewalt nicht aus der Welt schaffen, sondern sie nur der Vernunft subsumieren, sie nur zu einem Instrument der Vernunft machen. Bezeichnenderweise ist bei Kant die Idee des ewigen Friedens mit dieser Form von Gewalt verknüpft.
Das grundsätzliche Problem der außerökonomischen Gewalt werde ich in der Auseinandersetzung mit Marx behandeln. Hier sei nur festgehalten, was das liberale Selbstverständnis anbetrifft, dass die Theorie des Nachtwächterstaates nie zutreffend gewesen ist.79 Der Staat ist immer mit der Gewalt aufgetreten, die notwendig war, um grundlegende Herrschaftsverhältnisse zu sichern. In bestimmten