Politische Philosophie des Gemeinsinns. Oskar Negt
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Читать онлайн книгу Politische Philosophie des Gemeinsinns - Oskar Negt страница 23
Es geht Hegel dabei um das Problem von Innerlichkeit schlechthin, um die Frage, was bedeutet diese Moralität, die bei Kant ein Allgemeines darstellt, ein allgemeines Gesetz mit der Handlungsmaxime: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als allgemeines Gesetz gelten könnte«. Nicht der Wille, sondern die Maxime, das subjektive Gesetz deines Willens soll so sein, dass es als allgemeines Gesetz verbindlich für alle Menschen gelten könnte, nicht aber gelten muss. Nun hat Kant dabei ganz die Subjektivität ausgespart, die Subjektivität in einem empirischen, zufälligen Sinne. Wie kommt der Mensch dazu, allgemein zu handeln, wo er doch ein Individuum ist mit bestimmten Neigungen und Vorstellungen? Diese Dialektik und den damit verbundenen Vermittlungsprozess entfaltet Hegel in einem Abschnitt, in dem er auch die Herr-Knecht-Dialektik noch einmal anführt.
Der Geist wäre aus diesem Tumulte zu seinem Ausgangspunkte, der sittlichen und realen Welt der Bildung, zurückgeschleudert, welche durch die Furcht des Herrn, die wieder in die Gemüter gekommen, nur erfrischt und verjüngt worden. Der Geist müßte diesen Kreislauf der Notwendigkeit von neuem durchlaufen und immer wiederholen, wenn nur die vollkommene Durchdringung des Selbstbewußtseins und der Substanz das Resultat wäre […]. Die Bildung, die es in der Wechselwirkung mit jenem Wesen erlangt, ist daher die erhabenste und letzte, seine reine einfache Wirklichkeit unmittelbar verschwinden und in das leere Nichts übergehen zu sehen.89
Hegel betrachtet die einzelnen Stufen der Philosophie als Ausdrucksformen realer Vorgänge und verbindet die abstrakte Moralität bei Kant mit jener Dialektik, in welcher der Knecht in Todesfurcht vor dem Herrn lebt und dadurch erst sein abstraktes Selbstbewusstsein gewinnt. Der Herr seinerseits erfährt nie selbst diese Bedrohung, sondern nur die Bedrohung des anderen als eine vermittelte Erfahrung, eine abstrakte, disponierende Erfahrung. Der Knecht hingegen erfährt die Bedrohung des Todes unmittelbar, ist gezwungen zu arbeiten, und das ist der Schritt hinaus aus seinem abstrakten Selbstbewusstsein. Er arbeitet sein abstraktes Selbstbewusstsein im Stoffwechsel mit der Natur ab, er agglomeriert Realität in sich mit dem abstrakten Selbstbewusstsein. Er hat also beides, während der Herr nicht arbeitet und so allmählich in der Geschichte die Substanz seines disponierenden Selbstbewusstseins verliert. Es ist der Feudalherr, den Hegel dabei im Auge hat, und dieser arbeitet sich nicht ins Allgemeine oder, anders ausgedrückt, seine Subjektivität vergegenständlicht sich nicht in der Objektivität, sondern bleibt abstraktes Subjekt. Mit anderen Worten: Er macht keine Erfahrungen und bleibt Disposition. Der Knecht aber, der Selbstbewusstsein gewonnen hat – das ist die Figur des Bourgeois, des Bürgers –, dieser Knecht arbeitet sich an der Natur und der Gesellschaft ab, objektiviert Innerlichkeit und nimmt Äußerlichkeit ins Innere auf. Er konkretisiert also das Allgemeine für sich selbst und subjektiviert die Realität, vergegenständlicht sein Selbst in den Objekten, die er anschauen kann. Hier ist die Dialektik von Selbstbewusstsein und Arbeit noch einmal aufgenommen und wird jetzt in Bezug auf revolutionäre Prozesse interpretiert: Was sich aufseiten des Bourgeois vollzogen hat, vollzieht sich nun aufseiten des Citoyen. Diese Stelle behandelt die Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Realität beim Citoyen.
Hegel sieht hier ganz klar, dass durch bloße Bildung, durch bloß anschauende Rezeption der Dinge, dieser Prozess der tödlichen Bedrohung und damit auch des Selbstbewusstseins nicht zustande kommen kann. Für Hegel wie für Kant steht fest, dass die Entfaltung der Menschen durch Gewalt erfolgt. Es hat geschichtlich keinen Sinn, dem Knecht äußerlich klar zu machen, dass er etwas ist, sondern er muss erfahren, dass er etwas ist, das man zerstören kann. Es sind praktische und geschichtliche Prozesse, die sich hier abspielen, allerdings transponiert in die Selbstbewegung des absoluten Geistes, der sich hier auf einer bestimmten Stufe befindet:
In der Welt der Bildung selbst kommt es nicht dazu, seine Negation oder Entfremdung in dieser Form der reinen Abstraktion anzuschauen; sondern seine Negation ist die erfüllte, entweder die Ehre oder der Reichtum, die es an die Stelle des Selbsts, dessen es sich entfremdete, gewinnt; – oder die Sprache des Geistes und der Einsicht, die das zerrissene Bewußtsein erlangt […]. Alle diese Bestimmungen sind in dem Verluste, den das Selbst in der absoluten Freiheit erfährt, verloren.90
Die absolute Freiheit ist die Kantische Stufe der geschichtlichen Entwicklung, denn Moralität kann nur aus absoluter Freiheit gesetzt werden. Das moralische Gesetz ist ein Produkt absoluter Freiheit. Für die Moralität gilt nichts anderes, kein Reichtum, keine Ehre, keine Bildung, keine Herkunft und so weiter. Die gesamte Statushierarchie fällt deshalb zusammen, weil Reichtum nicht konstituierend ist für das moralische Handeln, sondern allein das schlicht Allgemeine selbst. Insofern steckt wirklich ein bürgerlich-emanzipatives Moment in diesem Allgemeinen. Weiter sagt Hegel hier, diese äußerlichen Dinge fallen vom Menschen ab, der nur noch im Notstand, wenn sein Leben gefährdet ist, die Möglichkeit hat, unmoralisch zu handeln. So ist das jedenfalls bei Kant.
»[S]eine Negation ist der bedeutungslose Tod, der reine Schrecken des Negativen, das nichts Positives, nichts Erfüllendes in ihm hat.«91 Zunächst ist hier nur bezeichnet, dass die Negation von Realität nicht zum physischen Tod führen muss, sondern der Tod des Begriffs ist. Tod bezeichnet hier zunächst nur eine Abstraktion, in der kein Inhalt ist, in der alles Spezifische von außen wegfällt. Der Mensch ist reines Selbst, auf sich selbst reduziert. Sie müssen hier auf die Untertöne bei Hegel achten: Bei ihm ist das bürgerliche Individuum, das sich ganz auf sich stellt, todgeweiht. Hegel durchschaut hier sehr genau die gesellschaftliche Vermitteltheit und die Vergesellschaftungsprozesse, denen das Individuum auch schlicht im Sinne der Lebenserhaltung unterliegt. Bei Hegel heißt es weiter:
Zugleich aber ist diese Negation in ihrer Wirklichkeit nicht ein Fremdes, sie ist weder die allgemeine, Jenseits liegende Notwendigkeit [der Antike, des Schicksals, Anm. Negt], worin die sittliche Welt untergeht, noch der einzelne Zufall des eigenen Besitzes oder der Laune des Besitzenden, von dem das zerrissene Bewußtsein sich abhängig sieht, – sondern sie ist der allgemeine Wille, der in dieser seiner letzten Abstraktion nichts Positives hat und daher nichts für die Aufopferung zurückgeben kann; […].92
Dieser allgemeine Wille kann der Realität nichts zurückgeben, weil er aus der Negativität dieser Realität entspringt. Diese Verbindung von Freiheit und Willen, von absoluter Freiheit und reinem Willen, ist natürlich die Ausdrucksform der Kantischen Philosophie, die Ausdrucksform auch, darauf möchte ich Sie immer wieder lenken, der Depotenzierung vom empirischen Willen, von Willensverhältnissen und von Freiheit in konkreter Realität. Es ist eine Generalisierung des Willens. Der allgemeine Wille drückt die moralischen Gesetze aus, »aber eben darum ist er unvermittelt eins mit dem Selbstbewußtsein, oder er ist das rein Positive, weil er das rein Negative ist«.93
Das ist Hegel. Wie ist das zu deuten? Das Positive für das Individuum, der allgemeine Wille, ist seine Realität. Nichts weiter hat er. Die Behauptung dieses Willens ist der Erdenrest in diesem Willen und bedeutet damit, dass die Behauptung gleichzeitig der Aufhänger ist, an dem der Einzelne sich festhalten kann. Ein solcher Wille ist für den Betreffenden das absolut abstrakt Positive. Die reine Negativität des Selbstbewusstseins und Willens, das ist für den Einzelnen das einzig Positive, was er hat. Das ist gewissermaßen seine Identität, und nur daraus gewinnt er Identität. Käme auf dieser Stufe schon ein Stück Realität mit hinein, würde diese Identität zerfasern, und so ist gerade das Allgemeine für den Einzelnen das Positive, das sich noch nicht vermittelt hat mit der Realität. Die Dialektik dieser Verknüpfung von reiner Positivität des Willens und des Selbstbewusstseins und reiner Negativität, was die Reduktion von Erfahrung und Realität anbetrifft, will Hegel hier behandeln. Denn die sich darin abspielende Erfahrung des Begriffs und der Sache mit sich selbst ist für ihn ein dialektischer Prozess. Dialektik ist Erfahrung, soweit sie sich an Gegenständen und in den Begriffen, die diese Gegenstände fassen wollen, selbst vollzieht. Ich habe früher bereits gezeigt, dass Erfahrung bei Hegel unendlich differenzierter ist als jener etwas vergreiste Erfahrungsbegriff Poppers, bei dem nur eine Erfahrung gilt, nämlich die durch Methodologien abgesicherte.